TIROLER TAGESZEITUNG, Leitartikel: „Eine Koalition der Gegensätze“, von Michael Sprenger

Ausgabe vom Montag, 30. Dezember 2019

Innsbruck (OTS) – ÖVP und Grüne gehen das Wagnis ein und stellen die Weichen auf gemeinsames Regieren. Beide Seiten wissen um die Gefahren. Diesen mit kreativen Ansätzen zu begegnen, ist die Herausforderung. Sie versuchen es situationselastisch.

Vom früheren SPÖ-Verteidigungsminister Gerald Klug ist wenig in Erinnerung. Nur ein Wort von ihm hat sich hierzulande in den Sprachgebrauch eingeschrieben: Situationselastisch.
Jetzt dürfte dieses Wort wieder in Verwendung kommen. ÖVP und Grüne gehen mit ihrem Pakt ein großes Wagnis ein. Sie haben einen grundverschiedenen Politik­-Ansatz, standen sich oft diametra­l gegen­über. Nun wollen sie regieren. Gemeinsam.
Trotz tragfähigen Brücken und provisorischen Übergängen, die in den vergangenen Wochen errichtet worden sind, wissen beide um die möglichen Bruchstellen aufgrund ihrer je eigenen gesellschaftspolitischen Entwürfe. Drohen diese Bruchstellen zur Gefahr zu werden, bedarf es einer kreativen Herangehensweise. Situationselastisch dürften Werner Kogler und Sebastian Kurz dabei agieren.
Der frühere Verteidigungsminister prägte das Wort, als sich die Große Koa­lition unter dem SPÖ-Kanzler Werner Faymann längst im Krisenmodus befand. Weil das wöchentliche Pressefoyer die Gegensätze zwischen SPÖ und ÖVP offen dokumentierte, wollte man den Auftritt neu gestalten. Nicht immer die Chefs sollten Rede und Antwort stehen. Auch einmal Fachminister. Situationselastisch eben.
Im Unterschied zum Beginn des Endes der Kanzlerschaft Faymann, wo die beiderseitige Ablehnung zur Schau gestellt worden ist, müssen ÖVP und Grüne trotz der ihnen innewohnenden Gegensätzlichkeit das Gemeinsame leben.
Beide Parteien sind aus der Wahl als klare Sieger hervorgegangen. Beide wurden für ihre klaren Grundsätze gewählt. Dort die rigide Steuer- und Migrationspolitik, hier das Werben für eine neue Klima-und Wirtschaftspolitik und den Kampf gegen Ausgrenzung.
Erst wenn das Regierungsprogramm vorliegt, wird man wissen, wie weit sich beiden Parteien schon annähern konnten. So oder so: Die größte Gefahr droht dieser Koalition unweigerlich von außen. Sollte es, was möglich ist, zu einer neuen Flüchtlingsbewegung kommen, dann prallen die Gegensätze zwischen Öko-Partei und konservativer ÖVP aufeinander. Kurz weiß um diese Gefahren und baut schon vor. Er will sich mit einer „Law and Order“-Politik gegen ein Wiedererstarken der FPÖ wappnen. Die Grünen müssen sich in Menschenrechts- und Gerechtigkeitsfragen auf erwartbare Angriffe von NEOS und SPÖ einstellen. Und zugleich in der Koalition immer wieder situationselas­tische Lösungsansätze finden. Eine einfache Übung sieht anders aus.

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