TIROLER TAGESZEITUNG „Leitartikel“ vom 16. Dezember 2020 von Gabriele Starck „Die Politik setzt Vertrauen aufs Spiel“

Innsbruck (OTS) – Die Zulassung für den ersten Covid-19-Impfstoff in der EU könnte nun doch schon unter dem Weihnachtsbaum liegen und soll nicht erst zum Jahresende erfolgen. Doch diese Woche Zeitgewinn hinterlässt einen schalen Beigeschmack.

Was hat so manch europäischen Politiker in den vergangenen Tagen vom abgewählten US-Präsidenten Donald Trump unterschieden? Gar nichts, wenn es um den Covid-19-Impfstoff ging. Das Stirnrunzeln im Sommer war allseits groß, als Trump auf die Entwickler und Behörden Druck auszuüben versuchte, um noch vor der Wahl eine Impfung präsentieren und sich so zum Sieger über die Corona-Pandemie erklären zu können. Nicht viel anders sind die Wortmeldungen der vergangenen Tage in der EU zu bewerten: Wenn etwa der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn und auch Bundeskanzler Sebastian Kurz vor JournalistInnen meinten, grünes Licht für den BioNTech/Pfizer-Impfstoff müsse doch schon vor dem von der Zulassungsbehörde angepeilten 29. Dezember möglich sein. Wo doch einige Staaten bereits mit dem Impfen begonnen hätten. Trumps Wunsch erfüllte sich nicht, die Europäische Arzneimittel-Agentur EMA hingegen dürfte den EU-Regierungen die Zulassung aller Voraussicht nach tatsächlich schon kommenden Montag unter den Weihnachtsbaum legen.
Man darf getrost davon ausgehen, dass sich die EMA nicht von Zurufen aus der Ruhe bringen ließ und das Prüfverfahren akribisch genau zu Ende führt. Im Gegenteil: Es dürfte viel eher so sein, dass die EU-Behörde den Regierungen in den vergangenen Tagen signalisiert hat, dass es nun doch schneller gehen und sie die Entscheidung vor dem 29. Dezember fällen könnte. In dem Fall hätten die Politiker aus reinem Profilierungsdrang so getan, als hätten sie – nun erfolgreich – Druck ausgeübt. So oder so: Der Sache wurde damit massiv geschadet.
Um das Vertrauen der Bevölkerung in die Impfung wachsen zu lassen, seien Transparenz und Offenheit notwendig, wird gebetsmühlenartig seit Wochen gepredigt. Politischen (Schein-)Druck auf eine Prüfbehörde auszuüben, ist das Gegenteil davon. Transparent wäre gewesen zu erklären, dass die von der EU angestrebte „bedingte Zulassung“ eine strengere ist als die Notfallzulassungen in den USA oder Großbritannien. Das könnte Vertrauen schaffen.
Noch dazu: Wem nützt die Woche Zeitgewinn? Ist ernsthaft beabsichtigt, vor allem aber ist es machbar, Menschen in den Pflegeheimen noch vor dem Jahreswechsel zu impfen? Wenn ja, umso besser. Aber dazu muss man schon ganz fest ans Christkind glauben.

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