
TIROLER TAGESZEITUNG, Leitartikel vom 7. Februar 2021 von Gabriele Starck „Ein Jahr der Erschütterungen“
Innsbruck (OTS) – Die Pandemie zeigt seit einem Jahr, wie anpassungsfähig der Mensch sein kann. Zugleich führt das Coronavirus Europa auch schmerzlich vor, wie überheblich es war zu glauben, alles im Griff zu haben und besser zu sein als andere.
Panik ist ansteckender als dieses Virus.“ So geschrieben vor einem Jahr und ein paar Tagen an dieser Stelle. Welch ein Irrtum. Seither belehrt uns SARS-CoV-2 Tag für Tag eines Besseren und erschüttert die Eckpfeiler unserer Lebenswelt, ja inzwischen sogar jene unseres westlichen Weltbilds.
Dass auf Demonstrationen nun ein Vermummungs-Gebot gilt und eine Bank nur mit Maske betreten werden darf, ist amüsant. Alles andere jedoch sind real gewordene Albträume. Die Pandemie raubt Leben – Millionen Leben. Sie nimmt Hunderttausenden die Arbeit und droht vielen Menschen das zu ruinieren, was sie sich über Jahre aufgebaut haben. Das Virus greift aber nicht nur in den Körper und die Psyche, in Betriebs- und Volkswirtschaften ein. Es verändert selbst banalste Situationen. Angefangen bei kleinen Gesten wie dem Handschlag, der inzwischen einen Mangel an Achtsamkeit statt Höflichkeit ausdrückt. Oder auch die Tatsache, dass eine Fernseh-Szene, in der sich zwei haushaltsfremde Menschen auf wenige Zentimeter nähern, irritiert. Der Mensch gewöhnt sich aber nicht nur an Entbehrungen, sondern auch an Bedrohungslagen. Und so schwindet die Angst langsam, die uns im Frühjahr noch in den eigenen vier Wänden hielt, und der Umgang mit dem Infektionsrisiko wird sorgloser. Die Bedrohung allerdings ist nicht kleiner geworden in den vergangenen Monaten, sondern größer. Denn das Virus stellt sich den Bekämpfungsstrategien, die sich sein Wirt, der Mensch einfallen lässt, indem es mutiert. Dem viel strapazierten „Licht am Ende des Tunnels“ nähern wir uns so nicht. Da ist noch etwas, das uns erschüttert: SARS-CoV-2 hat unsere westliche Überheblichkeit und Selbstüberschätzung entlarvt. Sei es am Beginn, als das Virus noch nicht in Europa angekommen schien und kleingeschrieben wurde. Sei es, als der Sommer uns glauben machte, Corona im Griff zu haben. Sei es, als die EU verkündete, die weltbeste Impfstoff-Beschaffung auf die Beine gestellt zu haben. Und letztlich auch, als die Europäer über den russischen Impfstoff Sputnik V lächelten, den Österreich nun gar produzieren würde. Und doch kann sich Europa eines zugutehalten: Es stellt den Schutz des Lebens allem voran – egal, wie alt und wie krank jemand ist. Der Grundpfeiler der Menschlichkeit steht noch. Darauf darf man sich nicht nur etwas einbilden, sondern sollte es auch – selbst in großer Not.
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