
TIROLER TAGESZEITUNG „Leitartikel“ vom 13. Jänner 2021 von Mario Zenhäusern „Christlich-soziale Verantwortung?“
Innsbruck (OTS) – Die drohende Abschiebung eines Lehrlings oder die Weigerung, Flüchtlingskinder aus Moria aufzunehmen, sind keine Einzelfälle: Die Asylpolitik der österreichischen Bundesregierung sorgt in regelmäßigen Abständen für Irritationen.
Im August 2019, mitten im Nationalratswahlkampf, hatte Wirtschaftsministerin Margarete Schramböck eine Neupositionierung der türkisen ÖVP in den Fragen des Zugangs von Asylwerbern zur Lehre und Abschiebungen während der Lehre bei rechtskräftig negativem Asylbescheid in Aussicht gestellt. Hintergrund der Ankündigung war eine heftige öffentliche Diskussion zu diesem Thema, ausgelöst durch die kompromisslose Asylpolitik der (drei Monate zuvor nach der Veröffentlichung des Ibiza-Videos implodierten) türkis-blauen Bundesregierung und ihrer beinharten Umsetzung durch das Innenministerium unter Herbert Kickl (FPÖ). Damals schwand auch im konservativen Lager die Zustimmung zu diesem Kurs, weshalb die ÖVP vor der Wahl via Schramböck ausrichten ließ, das Thema müsse „neu beurteilt“ werden. Bekanntlich ist dieser Plan aufgegangen. Die ÖVP ging als klarer Sieger aus der Nationalratswahl hervor.
Von der Ankündigung Schramböcks ist nicht viel übrig geblieben. Nach wie vor sorgt die Asylpolitik der inzwischen türkis-grünen Bundesregierung regelmäßig für Irritationen. Die konsequente Weigerung, eine begrenzte Anzahl unbegleiteter Minderjähriger aus dem abgebrannten Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos aufzunehmen, brachte Bundeskanzler Sebastian Kurz den Titel „Herzlos-Kanzler“ (© Bild-Zeitung) und eine entsprechende Riesen-Karikatur an einer Wiener Hausfassade ein. Zuletzt sorgte die drohende Abschiebung eines gut integrierten afghanischen Lehrlings aus dem Zillertal für Aufregung.
Die Bundesregierung hält trotzdem an ihrem Kurs fest – und sieht sich durch Umfragen bestätigt. Zwar ist fast die Hälfte der Menschen in Österreich für die Aufnahme von Flüchtlingskindern aus Moria, eine Mehrheit verteidigt aber grundsätzlich die harte Asylpolitik und ist sogar mit den zuletzt heftig kritisierten Abschiebungen einverstanden.
Des Kanzlers Unnachgiebigkeit bereitet allerdings dem Koalitionspartner zunehmend Probleme. Die grüne Basis fordert von den eigenen Regierungsmitgliedern immer energischer mehr Nachdruck im Ringen um eine humanere Asylpolitik. Der Erfolg ist bescheiden. Kurz hatte angesichts der katastrophalen Zustände in Moria zwar von einer „christlich-sozialen Verantwortung“ gesprochen und der Verpflichtung, „den Ärmsten der Armen zu helfen“, das Wort geredet. Allerdings meinte er damit ausschließlich die Hilfe vor Ort. So weit, hilfsbedürftige Kinder ins Land zu holen oder Lehrlinge nicht abzuschieben, geht die Verantwortung dann aber doch nicht.
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