Tiroler Tageszeitung, Leitartikel, Ausgabe vom 23. Oktober 2021. Von MARIO ZENHÄUSERN. “Wann zieht die ÖVP die Reißleine?”.

Innsbruck (OTS) – Die Korruptions-Affäre lässt die Umfragewerte der ÖVP in den Keller purzeln. Weil gleichzeitig die Aktien einer rot-grün-pinken Mehrheit auf Bundesebene steigen, sind Neuwahlen nur eine Frage der Zeit.

Meinungsumfragen verursachen bei Bürgerinnen und Bürgern, zumal nach dem Bekanntwerden mutmaßlich manipulierter Ergebnisse vor der Machtübernahme von Sebastian Kurz in der ÖVP, mitunter ein Gefühl des Misstrauens. Meistens zu Unrecht – aber eben nur meis-tens, wie die vergangenen Wochen gezeigt haben. Trotzdem: Wer alles zusammenfasst, was derzeit an Umfragen und Studien zur politischen Kräfteverteilung in Österreich vorliegt, kommt zu dem Schluss, dass auf Bundesebene erstmals seit vielen Jahren eine politische Mehrheit abseits des konservativen Lagers möglich wäre. ÖVP und FPÖ hätten gemeinsam keine Mehrheit mehr.
Allein die theoretische Möglichkeit einer rot-grün-pinken Ampel lässt in der ÖVP sämtliche Alarmglocken schrillen. Der Stimmungswechsel trifft die Partei zum absolut ungünstigsten Zeitpunkt. Die Korruptions-Affäre ließ und lässt die Umfragewerte in den Keller purzeln. Derzeit deutet angesichts der nach wie vor laufenden Ermittlungen und der drohenden Gefahr neuer Enthüllungen wenig darauf hin, dass sich das rasch wieder dreht. Hinzu kommt die Unklarheit darüber, ob Schwarz-Türkis künftig mit Sebastian Kurz an der Spitze versuchen soll, verloren gegangenes Terrain zurückzugewinnen, oder ob ein kompletter Neustart notwendig ist. Die Meinungen dazu gehen weit auseinander, auch weil insbesondere die schwarze ÖVP in den Bundesländern den nun publik gewordenen Stil der „türkisen Familie“ ablehnt.
Die unsäglichen Chatnachrichten aus dem innersten Machtzirkel rund um Sebastian Kurz haben das Kräfteverhältnis in der Bundesregierung nachhaltig verändert. Mittlerweile geht es nicht mehr darum, wie leidensfähig die Grünen ob der Kompromisslosigkeit des türkisen Koalitionspartners in Sachfragen sind. Plötzlich sieht sich die ÖVP in die Defensive gedrängt. Lange werden die schwarzen Granden allerdings nicht zuschauen, wie der grüne Koalitionspartner in der Regierung den Takt vorgibt und parallel dazu den Absprung in Richtung Rot-Grün-Pink vorbereitet. Auch wenn die Voraussetzungen alles andere als optimal sind: Es ist nur eine Frage der Zeit, wann sie die Reißleine ziehen und ihr Heil in Neuwahlen suchen werden.
In Tirol dürften damit vorgezogene Landtagswahlen vom Tisch sein. Die ÖVP wird sich hüten, angesichts der Orientierungslosigkeit der Partei auf Bundesebene einen Urnengang vom Zaun zu brechen. Das könnten die nach dem Kurz-Sturz mit neuem Selbstwertgefühl ausgestatteten Grünen nützen, um der Regierungs­arbeit in Tirol ihren Stempel aufzudrücken. Für Konfliktpotenzial ist also gesorgt.

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