TIROLER TAGESZEITUNG: „Ritt auf der Rasierklinge“, von Mario Zenhäusern

Ausgabe vom Samstag, 29. Jänner 2022

Innsbruck (OTS) – Der Wunsch vieler nach einer Lockerung der Corona-Maßnahmen ist nachvollziehbar. Trotzdem ist die Regierung gut beraten, die Öffnungsschritte mit Bedacht zu setzen. Zu groß ist die Gefahr, dass die Krise neuen Anlauf nimmt.

Die Situation in den Krankenhäusern ist nach wie vor stabil. Zum Glück. In Tirol befanden sich mit Stand gestern Freitag 135 Menschen mit einer Covid-Erkrankung in Spitalsbehandlung, 17 von ihnen benötigen intensivmedizinische Betreuung. Von einer drohenden Überlas-tung des Gesundheitssystems kann derzeit also keine Rede sein. Im Gegenteil, die Krankenanstalten arbeiten ihr Normalprogramm ab, holen Operationen nach, die aus Rücksicht auf die mögliche Überbelegung der Betten verschoben werden mussten.
Als Argument für die nach wie vor weitreichenden Einschränkungen hat die Hospitalisierungsrate also ausgedient. Vorerst. Noch nämlich weiß niemand, wie sich das Coronavirus weiterentwickelt, welche neuen Mutationen es bildet. Fest steht lediglich, dass Omikron alle anderen Varianten verdrängt hat und bei Geimpften beziehungsweise Genesenen, wenn überhaupt, relativ milde Krankheitsverläufe verursacht. Aber reicht das als Rechtfertigung für das nun von allen Seiten geforderte Ende der Corona-Beschränkungen?
Der Höhepunkt der Omikron-Welle ist nach Meinung der Experten, deren Prognosen zuletzt punktgenau waren, noch immer nicht erreicht. Diese Tatsache macht die Entscheidung für oder gegen die Öffnung nicht leichter. Nach wie vor steigt die Zahl der Neuinfektionen rasant an. Und es ist nicht abzusehen, ob und wie sich die Aufhebung des Lockdowns für Ungeimpfte ab Montag auswirkt. Lockerungen, während sich gleichzeitig Tag für Tag mehr Menschen mit dem nach wie vor gefährlichen Virus infizieren, kämen also einem Ritt auf der Rasierklinge gleich. Die Regierung ist deshalb gut beraten, die Öffnungsschritte mit Bedacht zu setzen. Zu groß ist die Gefahr, dass die Krise neuen Anlauf nimmt und wie ein Bumerang zurückkehrt. Nichtsdestotrotz ist der Wunsch nach dem Ende der für viele harten Maßnahmen nachvollziehbar. Die Menschen haben, unabhängig von ihrem Impfstatus, die Nase voll, sehnen sich nach einer Freiheit, die diesen Namen auch verdient. Regeln wie die auf 22 Uhr vorverlegte Sperrstunde in der Gastronomie stoßen lediglich auf Ärger und Unverständnis. Außerdem führen sie völlig unnotwendigerweise zu wirtschaftlichen Einbußen und zwingen die Menschen geradezu, in Privaträume auszuweichen. Was dort, wo erwiesenermaßen das größte Ansteckungsrisiko besteht, weniger gefährlich sein soll als in einem Gastlokal mit 2-G-Regel, Sitzplätzen, FFP2-Masken und Abstand, hat bis heute noch niemand schlüssig erklärt. Die Aufhebung dieser Verordnung ist überfällig.

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