
Leitartikel „Ein Prozess mit Fragezeichen“ vom 31. März 2022 von Michael Sprenger
Innsbruck (OTS) – Das Ibiza-Video offenbarte ein politisches Sittenbild, es löste ein Beben aus. Die Veröffentlichung markierte eine Weggabelung. Jetzt wurde der „Ibiza-Detektiv“ verurteilt. Nicht wegen des Videos. Ein Verfahren der Widersprüche.
Von Michael Sprenger
Justizskandal! So tönte es schon seit Monaten von jener Seite, die glaubt, mit dem Prozess gegen Julian Hessenthaler sollte gegen einen „Aufdecker“ ein Exempel statuiert werden. Hessenthaler hatte mit dem Ibiza-Video seinen großen Auftritt, er gilt als Drahtzieher jener Aufnahmen, die nach der Veröffentlichung eine beispiellose politische Kettenreaktion ausgelöst haben. Verbaler Applaus für die Verurteilung kam hingegen vor allem von einem ÖVP-nahen Onlinemagazin.
Die gegensätzlichen Reaktionen auf das nicht rechtskräftige Urteil können als weiterer Beleg für die politischen Zustände in der Republik gelten. Seit Monaten sieht sich das Land mit anhaltenden Vorwürfen von Korruption konfrontiert. Als Weggabelung gilt eben der 17. Mai 2019. Punkt 18 Uhr. Süddeutsche Zeitung und Spiegel veröffentlichten das Video. Die Folgen sind bekannt: Die Regierung Kurz I platzte, Vizekanzler und FPÖ-Chef Strache trat zurück, eine Neuwahl wurde ausgerufen. Und es begannen zahlreiche Ermittlungen, die bis heute zu anhaltenden Erschütterungen in der Kanzlerpartei ÖVP geführt haben.
Ohne das Ibiza-Video säßen wohl Kurz, Strache und Kickl noch in der Regierung, das Handy von Thomas Schmid wäre nicht beschlagnahmt, Spitzenbeamte des Justizapparats noch in Amt und Würden und ehemalige Minister müssten nicht mit einer möglichen Anklage rechnen. Doch jetzt ist der Drahtzieher des Ibiza-Videos in erster Instanz verurteilt worden. Aber nicht wegen des Videos, sondern wegen eines Drogendelikts.
Ein Justizskandal? Ein Grund zur Freude? Beides ist zu bestreiten. Obwohl das Video einen enormen Beitrag geleistet hat, Korruption in diesem Land bekämpfen zu können, ist Hessenthaler keiner, dem man einen Orden umhängen muss. Und sollte er mit Drogen gedealt haben, dann ist dies jedenfalls zu verurteilen.
Doch war es auch so? Hat Hessenthaler Kokain verkauft oder waren die Vorwürfe gegen ihn konstruiert? Dass Hessenthaler und seine Anwälte Letzteres behaupten, ist aus ihrer Sicht nachvollziehbar. Das starke Engagement der Sonderermittler der Polizei unmittelbar nach dem Ausstrahlen des Videos, der Prozessverlauf selbst mit sich widersprechenden Zeugen – einer davon bekam sogar Geld von einem Lobbyisten des Glückspielkonzerns Novomatic („Novomatic zahlt alle“) – lassen einen irritiert zurück.
Doch noch gilt: Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Die Folgen von Ibiza sind noch nicht aufgearbeitet. Die Unabhängigkeit der Justiz muss immer wieder erkämpft werden.
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