Tiroler Tageszeitung, Leitartikel, Ausgabe vom 7. April 2022. Von WOLFGANG SABLATNIG. „Wenn Gas die Strategie ersetzt“.

Innsbruck (OTS) – Der geplante Solidaritätsbesuch von Karl Nehammer in Kiew ist ein wichtiges Signal für die Ukraine. Seine Linie in der Außenpolitik muss der Bundeskanzler aber erst finden. Das Erbe der Putin-Versteher wiegt schwer.

Es ist furchtbar“, bringt Bundeskanzler Karl Nehammer sein Dilemma – und das von Österreich – auf den Punkt. Auf der einen Seite hängt die rot-weiß-rote Wirtschaft an der Gas-Pipeline wie der Süchtige an der Nadel. Die Folgen wären drastisch, wenn der Hahn plötzlich geschlossen wäre, egal ob Österreich ihn zudreht oder Wladimir Putin das tut. Auf der anderen Seite bezahlen alle Abnehmer mit dem Gas Putins Krieg in der Ukraine. Der Despot im Kreml profitiert mehrfach:
Er kann sich als verlässlicher Vertragspartner geben. Er weiß, dass er im Westen Zwiespalt sät, wenn er die europäische Diskussion über einen Energieboykott am Köcheln hält. Und er bekommt Geld, das er zwar nicht mehr in Europa und den USA, sehr wohl aber in Asien auch noch ausgeben kann. Mit den Gräueln von Butscha ist das Dilemma noch einmal drückender geworden.
Vor diesem Hintergrund bricht Nehammer demnächst zu einem Solidaritätsbesuch in Kiew bei Wolodymyr Selenskyj auf. Allein dass Nehammer kommt, hilft der Ukraine und ihrem Präsidenten. Der Bundeskanzler wird auch Hilfsgüter im Gepäck haben. Westen und Schutzhelme hat Österreich schon geliefert. Noch dringender würde sich Selenskyj einen Gasboykott und Waffen wünschen. Nehammer muss enttäuschen.
Noch fehlt auch eine ehrliche Aufarbeitung des Verhältnisses zum russischen Präsidenten. „Ich habe mich geirrt“, hat der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ganz offen zugegeben.
In Österreich fehlt diese Fehlerkultur. Hier wird stattdessen der grüne Vizekanzler zurechtgewiesen, wenn er von der Schleimspur am roten Teppich spricht, der Putin allzu lange ausgerollt wurde. Österreichische Außenpolitik war eben immer in erster Linie Wirtschaftspolitik. Gas und Rohstoffe, verlässlich und preisgünstig geliefert, wogen schwerer als alle Verfehlungen Putins. Dieses Erbe und die wirtschaftlichen Abhängigkeiten belasten jetzt umso mehr. Und Nehammer? Er handelt aus Betroffenheit. Er hat einen guten Draht zu Selenskyj und den Klitschko-Brüdern Vitali und Wladimir. So ergab sich ein Treffen mit Wladimir in Berlin. So ergab sich die Vereinbarung zum Besuch in Kiew. So ergeben sich die Hilfslieferungen.
Seine Linie in der Außenpolitik muss der Bundeskanzler aber erst finden. Die Diskussion über die Neutralität hat er verweigert. Noch? Auch beim Umgang mit russischen Diplomaten schert Österreich aus der europäischen Front aus und verweigert Ausweisungen. Noch? Betroffenheit und Solidarität allein sind kein Ersatz für Strategien.

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