
Tiroler Tageszeitung, Leitartikel, Ausgabe vom 9. April 2022. Von ALOIS VAHRNER. „Deutsche Impfpflicht-Schlappe“.
Innsbruck (OTS) – Österreich hat bei der Impfpflicht (wie schon bei anderen Corona-Maßnahmen) einen schwer nachvollziehbaren Slalom hingelegt. Gegen den Bauchfleck in Deutschland wirkte das Ganze aber fast noch professionell.
Wer ihn wähle, bekomme Führung, hatte der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) angekündigt: Das mag beim von ihm als Reaktion auf den brutalen russischen Angriff auf die Ukraine verkündeten Aus für die Gasleitung Nord Stream 2 oder die Aufrüstung der Bundeswehr um satte 100 Mrd. Euro zutreffen, bei der Corona-Impfpflicht für Personen über 60 Jahre (und für alle anderen eine Beratungspflicht) aber keineswegs. Obwohl Scholz dafür seit Monaten geworben hatte, ging die Abstimmung im Bundestag mit 378 Nein- zu 296 Ja-Stimmen klar daneben. Dafür stimmten vor allem SPD- und Grünen-Abgeordnete, nicht aber die meisten FDP-Abgeordneten. Eine schwere Schlappe für die hier offenbar völlig uneinige Ampelkoalition. Und auch eine besonders heftige für Gesundheitsminister und Hardliner Karl Lauterbach (SPD), dem von Kritikern nachgesagt wird, seine Ansagen lieber in Talkshows als in zuständigen Gremien zu treffen. Und es war auch eine schwarze Stunde für die Union aus CDU und CSU, die in ihren Reihen zwar auch mehrheitlich für eine Impfpflicht ist, aber die Regierung offenbar lieber ausrutschen lassen wollte, als in der Sache abzustimmen. So rutschte man gleich selber mit aus.
Gegen diesen Bauchfleck beim großen Nachbarn wirkte selbst das österreichische Vorgehen noch halbwegs verträglich. Da winkte eine sehr große Mehrheit von ÖVP, Grünen, SPÖ und NEOS (klar dagegen war nur die FPÖ) die umstrittene Impfpflicht durch – um sie nur kurz darauf zumindest bis auf Weiteres wieder auf Eis zu legen.
Klar ist, nach zwei langen, für alle belastenden Corona-Jahren scheint die Pandemie durch die zwar weit ansteckendere, aber in den meisten Fällen doch harmlosere Omikron-Variante viel von ihrem Schrecken verloren zu haben. Die Impfung schützte hier weder vor der eigenen noch vor der Ansteckung anderer Personen – laut Experten aber doch oft vor schwereren Verläufen und Langzeitfolgen. Ob das im Gegensatz zu früheren, weit tödlicheren Varianten noch ausreicht, eine allgemeine, noch dazu in der Realität nur schwer realisierende Impfpflicht umzusetzen?
Es ist eine Frage, die in unser aller Sinn hoffentlich gar nicht mehr beantwortet werden muss – nämlich dann, wenn keine gefährlicheren Virus-Mutationen auftauchen und sich viele einfach einen vierten Stich holen. Der Übergang von der Pandemie zur Endemie wäre geschafft. Im anderen Fall wird es im Herbst wieder ungemütlich. Und der Politik würde vorgeworfen, sie habe erneut einen Sommer tatenlos verstreichen lassen.
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