TIROLER TAGESZEITUNG „Leitartikel“, vom 26. April 2022, von Floo Weißmann:“Europas nächste Etappe“

Innsbruck (OTS) – Macron bleibt Präsident von Frankreich, weil viele Wähler seine Rivalin noch weniger mochten. Aber es kracht gewaltig im Gebälk der Republik. Daraus sollten auch die europäischen Partner ihre Lehren ziehen.

Ein laut hörbarer Seufzer der Erleichterung ging nach der Wiederwahl von Emmanuel Macron durch Europa. Zwar hat der ideensprühende Franzose den Verbündeten schon so manche Sorgenfalte beschert. Aber unter ihm als Präsident bleibt Frankreich der europäischen Integration und der Stärkung der EU verpflichtet. Ein Wahlsieg der Rechtspopulistin Marine Le Pen hingegen, die für das genaue Gegenteil steht, hätte Schockwellen durch Europa und das gesamte westliche Bündnissystem gesandt.
Von einem Triumph blieb Macron weit entfernt – im Gegenteil. Alle Zeichen deuten darauf hin, dass seine zweite Amtszeit als Gnadenfrist aus Mangel an Alternativen zu verstehen ist. Macron scheint sich dessen bewusst zu sein; er hat überraschend demütige Töne angeschlagen. Ihm bleiben nur Wochen, um ein Desaster bei der Parlamentswahl im Juni abzuwenden. Vor allem in der Sozial- und in der Klimapolitik wird er nachbessern müssen, um einige Leihstimmen aus dem linken Lager zu behalten.
Es geht aber nicht allein um Macrons parlamentarische Hausmacht, sondern in einem größeren Rahmen um das politische und gesellschaftliche Gefüge in Frankreich. Die Unzufriedenheit im Land ist groß, wie auch die Proteste und die niedrige Wahlbeteiligung zeigen. Die traditionelle Mitte erodiert, die politischen Ränder erstarken. Die nationalistische Rechte, die auf Abschottung setzt, jubelt trotz Niederlage über ihr bisher bestes Wahlergebnis. Ihre Positionen docken mittlerweile an einen nach rechts verschobenen Mainstream an. Zwischen Arm und Reich, Stadt und Land, Gebildeten und weniger Gebildeten tun sich Gräben auf. Teile der Gesellschaft, die sich abgehängt fühlen, misstrauen dem politischen System und dem großen Europa, in das es eingebettet ist. In diesem Teich fischen Populisten. Die Folgen der Pandemie und des Krieges haben die Auseinandersetzung weiter verschärft.
Auch ein souveränerer Präsident als Macron stünde vor einer Herkulesaufgabe. Und den europäischen Partnern sollte das, was im französischen Wahlkampf aufgebrochen ist, als Auftrag dienen. In anderen Demokratien gibt es zahlreiche Parallelen. Nächstes Jahr wählt mit Italien ein weiteres EU-Schwergewicht, in dem eine nationalistische Rechte sich Chancen auf einen Sieg ausrechnet.
Die Präsidentenwahl in Frankreich bedeutet nur eine Zwischenetappe im Bemühen, Europas Errungenschaften zu erhalten sowie Sicherheit und Chancen für möglichst alle Mitglieder der Gesellschaft zu ermöglichen. Macron wird dazu mehr beitragen müssen als bisher. Dasselbe gilt für viele andere in Europa, die am Sonntagabend erleichtert geseufzt haben.

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