
3. Brief von Max Zirngast aus dem türkischen Gefängnis
Nur so kann man in Erdogans Kerkern überleben: Disziplin, Kreativität und Solidarität
Wien/Ankara (OTS) – Der Österreichische Journalisten Club (ÖJC)
veröffentlicht heute den dritten Brief von Max Zirngast aus dem
türkischen Gefängnis, indem er nun schon seit September ohne Anklage
eingesperrt ist. Er hat uns in der vergangenen Nacht erreicht. Für
ÖJC-Präsident Fred Turnheim ist es unerträglich, dass der Fall
Zirngast von der Außenministerin Dr. Karin Kneissl noch immer als
„Konsularfall“ betrachtet wird. Turnheim ruft erneut Bundeskanzler
Sebastian Kurz und seine Außenministerin auf endlich aktiv zu werden
und alle österreichischen Geiseln in Erdogans Gefängnissen zu
befreien.
Max Zirngast schreibt, um der Monotonie im Gefängnis zu entgehen; er
schreibt, um sich selbst eine Aufgabe zu schaffen, produktiv zu sein.
Und nicht zuletzt schreibt er für uns alle, damit wir ihn und alle
anderen zehn Österreicher in türkischen Gefängnissen nicht vergessen.
Alltag im Gefängnis: Ein weiterer Brief von Max Zirngast. Zum
Verständnis haben wir einige Anmerkungen und Überschriften eingefügt,
sie sind durch eckige Klammern markiert.
DER BRIEF
„Ich fange dort an, wo ich beim letzten Brief aufgehört habe.
Namentlich möchte ich darstellen, wie man mit dem Raum-Zeit-Komplex
hier umgeht. Natürlich muss ich zuvor anmerken, dass ich erst zwei
Monate im Gefängnis bin und deshalb diesbezüglich noch etwas
zurückhaltend bin. Wie ich im letzten Brief erwähnt habe, gibt es
sehr unterschiedliche Gefängnistypen. Auf was ich mich im Folgenden
(und auch davor) beziehe, hat mit dem zu tun, was ich selbst erlebt
habe und was Mithat [Zellenkollege von Max; Anm. d. Red.] mir erzählt
hat. Ich glaube allerdings, dass meine Ausführungen auf die
F-Typ-Gefängnisse im Allgemeinen zutreffen.
Der Wesenskern der uns aufgezwungenen räumlichen und zeitlichen
Wirklichkeit ist die Bestrafung, sie zieht ihre Kraft aus Monotonie,
Bewegungslosigkeit und Isolation. Im vorherigen Brief habe ich das ja
schon angerissen. Die drei wichtigsten Umgangsformen damit lassen
sich mit den Begriffen Disziplin, Kreativität und Solidarität
umschreiben.
Hinzu kommen noch die spezifischen Verhaltensweisen der Wächter.
Zusammen mit hier vorherrschenden raum-zeitlichen Wirklichkeit,
erschaffen sie eine „Totalität der Bestrafung“, die zugleich der
Rahmen ist, innerhalb dessen wir uns bewegen. Deshalb einige Worte zu
den Wächtern.
Der Staat hat uns zwar hierher geschickt; mit Richter, Staatsanwalt
und Polizei sind wir aber im Prinzip gar nicht mehr im Kontakt. Auch
mit der Gefängnisführung haben wir so gut wie keine Berührungspunkte.
Die einzigen, mit denen wir tagtäglich im unmittelbaren Kontakt sind,
sind die Wächter als Repräsentanten des Staates. Die Unmittelbarkeit
des Kontakts mit ihnen birgt auch die Quelle von potenziellen
Problemen.
Unsere Kommunikation verläuft hauptsächlich über das Gitter an
unserer Tür. Briefe, Essen, Gegenstände, Zeitungen und so weiter
werden uns durch das Gitter gereicht. Die Tür wird nur dann
aufgemacht, wenn eine Zählung stattfindet oder wir hinaus gehen (zum
Sport, zum Besuch und dergleichen). Eigentlich müssen die Beziehungen
zwischen Wächtern und Inhaftierten auf das professionelle Minimum
beschränkt sein und nicht über die notwendigsten Kontaktaufnahmen
hinausgehen. Der Großteil der Wächter handelt auch dementsprechend.
Auch wir haben kein Interesse an unnötigen Auseinandersetzungen. Da
gibt es allerdings sicher unterschiedliche Herangehensweisen unter
den politischen Gefangenen. So lange sie uns nicht schlecht
behandeln, verbleiben wir ebenfalls professionell. Wenn allerdings
ungerechtes Verhaltes stattfindet, nehmen wir das nicht hin. Ich
setze hier mal einen Punkt diesbezüglich und hebe nur nochmal hervor,
dass dieser subjektive Faktor ebenfalls sehr wichtig ist als Element
der „Totalität der Bestrafung“. (Ich muss vermutlich nicht gesondert
hervorheben, dass die Wächter nicht aus persönlicher Willkür heraus
handeln – letztlich sind sie an eine klare Kommandostruktur
gebunden.)
Die Zwänge des Raum-Zeit-Komplexes
Wie auch schon aus meinen vorherigen Briefen hervorgeht, zwingt uns
der hier vorherrschende Raum-Zeit-Komplex Monotonie,
Bewegungslosigkeit und Isolation auf. Fast 24 Stunden am Tag befinden
wir uns in derselben Zelle. Insbesondere im Winter kann man sich kaum
woanders aufhalten. Ein Mal alle zwei oder drei Wochen gehen wir für
maximal 30 bis 45 Minuten raus zum Sport, oder wir gehen zu einem
Besuchstermin. Jeden Tag dieselben Wände, dieselben Routinen,
dieselben Dinge. Wir bleiben mit ein oder zwei anderen Menschen, auch
sie immer dieselben. Unsere Bewegungsmöglichkeiten sind stark
eingeschränkt, dasselbe lässt sich über unsere Kommunikation sagen.
Nicht einmal unsere Freund*innen können wir sehen, da unsere
Besucher*innenlisten noch nicht akzeptiert wurden. Außer den
Informationen, die wir von den Tageszeitungen beziehen, wissen wir
also im Prinzip nicht, was draußen passiert.
Diese objektiven Bedingungen können zu falschen Verhaltensweisen
führen. Einige lassen sich angesichts dieser kalten, isolierten und
monotonen Umstände, die so fern sind von jeder Schönheit, gehen. Sie
denken: „Was soll schon passieren, die Zeit soll vorübergehen“.
Menschen, die das so sehen und den Tag im Gefängnis mit viel Schlafen
und Rumhängen verbringen, werden schwerfällig.
Um der Zerstörung der Phantasie zu begegnen erscheint es vielleicht
naheliegend, sich einen Fernseher zuzulegen. Es mag als eine Lösung
erscheinen, fernzusehen, um zu kompensieren, dass man vom modernen,
urbanen Leben abgeschnitten wurde.
Selbstverständlich ist dies keine schlechte Idee für Inhaftierte, die
länger bleiben müssen. Ab und an einen schönen Film oder eine
aktuelle Debatte anschauen, das ist sicherlich nicht schädlich. Aber
wenn man versucht, alles, woran es einem mangelt, mit dem Fernseher
zu beheben, dann wird es gefährlich. Anstatt die Phantasie aktiv zu
betätigen und zu entwickeln, verbleibt man dann passiv als bloßer
Beobachter. Die Monotonie, Bewegungslosigkeit und Isolation der
aufgezwungenen Umstände werden so nicht aufgebrochen. Mehr noch: Man
verliert Halt und wird paralysiert.
Unsere Umfangsformen sind ein wenig anders. Ich versuche, sie euch
mittels der drei genannten Begriffe Disziplin, Kreativität und
Solidarität darzustellen.
Disziplin
Was einem hier aufgezwungen wird, ist eigentlich eine ziemlich
disziplinierte – wenn nicht gar zu disziplinierte – alltägliche
Routine. Die Morgenzählung, die Verteilung des Essens, Warmwasser,
Gang in den Hof, Abendzählung – alles findet zu bestimmten Zeiten
statt. Außerdem muss man zur Zählung in ordentlicher Kleidung
erscheinen. Anstatt diese Disziplin aufzuweichen, versuchen wir, noch
disziplinierter zu sein.
Zum Beispiel bevorzugen wir es nicht, morgens erst kurz vor der
Zählung aufzustehen, uns superschnell anzuziehen und nach unten zu
hetzen. Vielmehr sind wir schon lange wach, bevor die Zählung
überhaupt stattfindet, haben gefrühstückt, die Zähne geputzt und
warten bereit in ordentlicher Kleidung. Wir haben uns darauf
eingestellt, dass die Zählung um 8:00 Uhr stattfindet, auch wenn sie
dann de facto um 8:15 -8.30 Uhr stattfindet. Das nervt uns dann
maximal nur etwas. Direkt nach der Zählung fangen wir unser eigenes
Programm an. Da es immer sein kann, dass wir aus der Zelle heraus
müssen, sitzen wir den gesamten Tag über in ordentlicher Kleidung
(Hemd, Hose) im unteren Stock und sind potenziell bereit. Die
kurdischen Gefangenen sind 24 Stunden lang in ordentlichen Kleidern,
sie schlafen also auch mit ihren Hosen. Wir haben das auf den
Zeitraum zwischen den Zählungen beschränkt, in dem wir keine
Jogginghosen und sowas anhaben.
Auch wenn es ein recht einfaches Motto ist, versuchen wir uns danach
zu richten: „Wenn du die Zeit nicht nutzt, nutzt sie dich“ (das gilt
natürlich auch für den Raum). Wir versuchen die ganze Zeit, über den
Entwicklungen zu stehen und die Zeit, die wir hier verbringen müssen,
so produktiv wie möglich zu nutzen.
Kreativität
Wie ihr wisst, war der Besitz von Büchern von Dr. Hikmet Kıvılcımlı
[türkischer kommunistischer Theoretiker, 1971 im Exil in Belgrad
verstorben; Anm. d. Red.] eines der Hauptelemente in der
rechtswidrigen Polizeibefragung und später in der Aussage beim
Staatsanwalt. Nun denn, dann eine Anekdote von Dr. Hikmet. Als er im
Jahre 1937 zu einer 13-jährigen Haftstrafe verurteilt wurde und der
Richter ihn fragte, ob er noch etwas hinzuzufügen habe, antwortete
er: „13 Jahre sind sogar zu viel, um ein roter Professor zu werden.“
Draußen wie drinnen agieren wir auf Grundlage von Bedingungen, die
wir uns nicht ausgewählt haben. Wenn man die Dinge so sieht, ist das
Gefängnis nur ein anderer Ort, an dem der Kampf um Freiheit geführt
wird. Was zählt, ist, in welche Beziehung wir zu den Bedingungen
treten, wie wir die Möglichkeiten nutzen und wie wir die Umstände –
wie begrenzt auch immer – verändern. Hierfür bedarf es der
Kreativität. Vom kleinsten alltäglichen Detail bis hin zu allgemeinen
Tendenzen ist Kreativität in jeder Hinsicht wichtig. So haben wir zum
Beispiel den riesigen Wasserbehältern ganz unterschiedliche
Funktionen zugewiesen. Wir nutzen sie als Gewichte beim Sport, aber
auch, wie im letzten Brief erzählt, als Sieb für fettiges Essen; wir
nutzen sie aber auch zur Bewahrung von Gemüse und so weiter. Wie sehr
unsere Möglichkeiten auch beschränkt sind, treiben wir so gut es geht
Sport, lesen Bücher, schreiben und entwickeln und in vielerlei
Hinsicht.
Die Kreativität kennt keine Grenzen. Unsere Freundin Hatice [Göz,
sitzt im Rahmen desselben Verfahrens wie Max Zirngast und Mithatcan
Türetken im Gefängnis; Anm. d. Red.], die sich noch im
Frauengefängnis befindet, hat uns von der Kreativität erzählt, die
man dort vorfindet. Ihr O-Ton: „Die können aus allem irgendetwas
machen.“ Ohne Küche machen sie trotzdem Essen und vieles mehr. Wir
versuchen auch ähnliche Dinge zu tun. Eines Tages haben wir zum
Beispiel Humus gemacht. Das Kichererbsengericht, das kam, war zu
viel. Essen stehen lassen ist nicht so einfach, da wir keinen
Kühlschrank haben, wegwerfen wollten wir es auch nicht. Also haben
wir die restlichen Kichererbsen erst mal mit unserem
Wasserbehälter-Sieb schön gewaschen. Dann haben wir die Kichererbsen
mit einem Glas zerstampft und zusammen mit Olivenöl und Sesampaste,
die wir gekauft hatten, zu Humus verarbeitet, in eine Schale gegeben
und seitdem aufbewahrt. Wenn das Essen mal nicht genug ist, haben wir
so also nun selbstgemachten Humus, den wir dazugeben können. Auch
wenn dies nach einem kleinen Detail klingt: Solche Formen von
Kreativität und „Erfolgen“ sind enorm wichtig. Wir betrachten unsere
Zelle nicht als einen kleinen Käfig, in den wir eingesperrt sind,
sondern als einen Raum, in dem wir diszipliniert und hoch
konzentriert Sport treiben, Bücher lesen und uns so entwickeln. So
verhalten wir uns auch.
Solidarität
Damit wäre ich beim dritten Punkt angelangt, der Solidarität. Und
zwar die zwischen den Inhaftierten aber auch zwischen denen, die hier
drin, und denen, die dort draußen sind. Was die Isolation bricht und
dem Inhaftierten Kraft und Energie gibt, das ist die Solidarität.
Trotz vieler gegenteiliger Anstrengungen, gibt es immer noch einige
Kommunikationsmöglichkeiten innerhalb der Gefängnisse. Rufe zwischen
den Zellen, Übermittlung von Nachrichten mit Bällen oder ähnlichem
und so weiter. Im Gegensatz zu den F-Typ-Gefängnissen, in denen
Mithat schon früher war, ist hier bei uns – vielleicht hat das was
mit den Veränderungen seit dem Ausnahmezustand zu tun – nicht nur der
Hof mit NATO-Draht umzäunt, sondern auch nach oben hin ist alles mit
NATO-Draht abgesperrt. Offensichtlich geht es dabei nicht um das
Verhindern einer möglichen Flucht, sondern es geht darum,
Kommunikation zu unterbinden. Aber wer kreativ ist, findet schon
Wege, trotzdem zu kommunizieren.
Diejenigen, die schon länger hier sind, teilen ihre Sachen mit den
Neuen. Und wenn Leute gemeinsam neu hineinkommen wie wir, dann
motivieren sich die Menschen gegenseitig und bauen sich wechselseitig
auf. Diese Solidarität zwischen den Inhaftierten ist sehr wichtig, um
stark zu bleiben und die Zeit produktiv zu nutzen. Wenn es im
Gefängnis ein Problem gibt, dann kann man umso effektiver dagegen
vorgehen, umso mehr Zellen sich dagegen wehren. Bei uns sind solche,
die wegen „FETÖ“ [Inhaftierte, denen die Mitgliedschaft in der
Gülen-Bewegung vorgeworfen wird, Anm. d. Red.] oder wegen anderen
kriminellen Delikten angeklagt werden, in der Mehrheit. Da sie keine
großen Traditionen von Widerstand haben, kommt von ihnen auch nicht
viel.
Die andere Seite der Solidarität ist diejenige, die von außen kommt.
Die Kampagnen, Briefe, zugeschickten Nachrichten sind alle enorm
wichtig für die Inhaftierten. Das klingt zwar vielleicht nach einem
Klischee, aber allein die Briefe sind so wichtig. Nicht nur deshalb,
weil sie einem Mut machen, sondern auch im Hinblick auf zukünftige
Synergien und kollektive Prozesse. Wie schon gesagt, ist unsere
Situation nicht der Gipfel von allem. Es gibt noch sehr viel zu tun,
um eine gerechtere, freiere, nachhaltigere Welt zu erschaffen. Von
dieser Perspektive her betrachtet leben wir in schwierigen Zeiten.
Während ich das hier schreibe, setzen sich Zehntausende aus Ländern,
die schon seit langem vom US-amerikanischen Imperialismus ausgebeutet
werden, in Richtung der USA in Bewegung und Trump schickt ihnen die
Armee entgegen. Während wir im Gefängnis sitzen, wurde der Journalist
Jamal Kashoggi am helllichten Tag im saudischen Konsulat umgebracht.
In Brasilien ist einer an die Macht gekommen, der ganz offen
rassistisch, sexistisch und faschistisch ist und die Militärdiktatur
verteidigt. Während die strukturelle Krise des Kapitalismus
fortdauert, versuchen reaktionäre und autoritäre Kräfte überall auf
der Erde, mit Repression und Gewalt eine „Krisenlösung“ zu forcieren.
Wir alle brauchen die Solidarität. Was uns hier am Leben hält, ist
die Solidarität, und sie stärkt auch die Freund*innen draußen.
Alle die Taten, die für mich unternommen wurden, machen mich zutiefst
glücklich, berühren mich – und ehren mich. Nochmal vielen Dank an
alle.
Zum Ende
Ich habe hier und in den letzten Briefen versucht, einen groben
Überblick über unseren Alltag im Gefängnis zu geben. Was ich
aufgeschrieben habe, beruht zumeist auf bisher noch nur zwei Monaten
Gefängnisaufenthalt. Es sind also Skizzen, erste Versuche. Ich halte
nochmal fest, wie wichtig es ist, Gedichte und Romane, sowie Theorie-
und Geschichtswerke und Werke über Musik in Kombination mit
Tageszeitungen zu lesen, damit die eigene Phantasie nicht kaputt geht
unter den aufgezwungenen objektiven Bedingungen. Wenn wir schon ins
Gefängnis geschickt werden, damit unsere Individualität zertrümmert
und unsere Empfindungen für das Schöne zerstört werden, dann ist es
unsere Aufgabe, hier herauszukommen mit einer entwickelteren
Phantasie und mit einem noch entwickelteren Verständnis für das
Schöne, mit Blick auf die Zukunft.
Ich denke, ich habe nun die Situation un
Österreichischer Journalisten Club
Margarete Turnheim
Generalsekretariat
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