TIROLER TAGESZEITUNG, Leitartikel: „Zerrissene Seelen im Adventrausch“, von Liane Pircher

Wir kämpfen mit einem gesellschaftlichen Werteverlust und spüren viele Ungerechtigkeiten. Besinnung bräuchten wir.

Innsbruck (OTS) – In der Weihnachtszeit sollte der Mensch innehalten.
Sollte. Im echten Leben sind die meisten von uns gespaltener denn je
angesichts der realen Herausforderungen.

Mit dem Anzünden der ersten Adventkerze sind wir wieder so weit:
Das Fest der Liebe naht. Wir bekommen stärker als zu jeder anderen
Jahreszeit mit, dass soziale Einrichtungen viel zu tun haben:
Jobverlust oder Krankheit führen dazu, dass Menschen plötzlich vor
dem Nichts stehen. Gleichzeitig hören wir, dass Österreicher
Weltmeister im Spenden sind. Das beruhigt, weil wir wissen, dass der
selbstverständlich gewordene Wohlstand längst nicht mehr für alle
möglich ist. Tief in unserem Innersten ahnen wir, dass die nächsten
Wochen seelische Ruhe bringen sollen, Anteilnahme am Schwächeren,
Besinnlichkeit. Wir spüren aber wenig, weil wir mit den
Weihnachtseinkäufen in der einen Hand und dem Handy in der anderen
durch den Alltag hetzen.
Wir hören im Radio von einem wie Kardinal Christoph Schönborn,
dass das Wort Asyl in unserem Land nicht zu einem Schimpfwort werden
darf. Wir wissen, dass das längst passiert. Und, dass das auch mit so
schrecklichen Ereignissen wie dem gerade passierten Mord in Innsbruck
zusammenhängt. Wir verstehen nicht, warum der Grad der Integration in
einem Asylverfahren keine Rolle spielt, warum gut integrierte
Lehrlinge und Familien scheinbar mühelos und schnell abgeschoben
werden. Trotz Protesten. Warum aber straffällige, gewalttätige
Asylwerber das amtswegige Verfahren ausreizen oder als U-Boot
untertauchen können. Wir spüren, dass hier etwas schiefläuft. Dass
eine unmenschliche Integrationspolitik alle spaltet und eine Gefahr
ist. Dass jede Gemeinschaft, ob Familie oder Staat, gemeinsame Werte
braucht. Das ist die große Herausforderung an die Politik, an uns
alle. Daran sollten wir denken, wenn wir demnächst an einer Krippe
vorbeikommen – schließlich steht sie für die große Erzählung der
Humanität.

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