TIROLER TAGESZEITUNG, Leitartikel: “Ein wenig Kitt für ein zerrissenes Europa”, von Christian Jentsch

Ausgabe vom Mittwoch, 17. Juli 2019

Innsbruck (OTS) – Die CDU-Politikerin Ursula von der Leyen wurde mit äußerst knapper Mehrheit zur neuen Kommissionspräsidentin gewählt. Wer nun keine weitere Schwächung Europas riskieren will, sollte auf Zusammenarbeit setzen.

Es war eine Zitterpartie für die CDU-Politikerin, scheidende deutsche Verteidigungsministerin und siebenfache Mutter. Ursula von der Leyen wurde gestern im Europaparlament mit einer knappen Mehrheit von 383 Stimmen (374 waren mindestens nötig) zur Nachfolgerin von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker gewählt, dessen Amt sie am 1. November antreten wird. Für die nächsten fünf Jahre wird von der Leyen als erste Frau an der Spitze der EU-Kommission Politik und Prioritäten der Union mitbestimmen. Wobei eines klar ist: Die Nominierung von der Leyens zur Kommissionspräsidentin seitens der Staats- und Regierungschefs der EU war wieder einmal alles andere als eine Werbung für Transparenz innerhalb der Union. Das Europaparlament drang darauf, dass der künftige Kommissionspräsident aus dem Kreis der Spitzenkandidaten der europäischen Parteifamilien bei der Europawahl gewählt wird, und lockte damit die Europäer zu den Urnen. Doch die EU-Staats- und Regierungschefs stellten die Spitzenkandidaten wie Manfred Weber von den stimmenstärksten Konservativen oder den Sozialdemokraten Frans Timmermanns rasch aufs Abstellgleis. In Hinterzimmerdeals einigte man sich schließlich auf die CDU-Politikerin Ursula van der Leyen, Frankreichs Präsident Macron schlug sie vor und mit ihr konnten auch die Osteuropäer leben. Die Spitzenkandidaten hatten hingegen nicht nur bei den Staats- und Regierungschefs, sondern auch im Europaparlament selbst nur bescheidenen Rückhalt. Da ging es weniger um das Wohl Europas als vielmehr um die Interessen der Partei.
Und eines muss man Ursula von der Leyen zugestehen. Sie hat im Vorfeld ihrer Wahl wirklich alles versucht, um (fast) alle Richtungen und Fraktionen im Europaparlament zufrieden zu stellen. Sie versprach eine Wende in der europäischen Klimapolitik, sie sprach sich für einen gerechten Mindestlohn in der EU aus, sie versprach einen neuen Mechanismus zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit in der EU, sie propagierte Gleichberechtigung und ein stärkeres Europa in der Welt. Jeder sollte wissen, dass von der Leyen als Kommissionspräsidentin ihre Versprechen nur anschieben, aber nicht umsetzen kann. Der Vorwurf, zu wenig konkret zu sein, geht ins Leere. Dazu braucht es in erster Linie die Staats- und Regierungschefs der EU und in vielen Bereichen auch das Europaparlament. Und das Erreichen konkreter Ergebnisse im zerrissenen Europa ist längst zur Sisyphusarbeit geworden. Man sollte von der Leyen eine Chance geben. Europa braucht dringend Kitt, sonst bricht es auseinander.

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