TIROLER TAGESZEITUNG, Leitartikel: “Erst am Anfang oder schon am Ende?”, von Manfred Mitterwachauer

Ausgabe vom Mittwoch, 13. November 2019

Innsbruck (OTS) – Die Vignettenbefreiung ist nichts anderes als die Behandlung eines chronischen Schmerzes. Umso mehr drängt Tirol auf ein eigenes Transit-Kapitel im möglichen türkis-grünen Koalitionspakt. Da bedarf es mehr als nur homöophatischer Mittel.

Versprechen, verzögern, vergessen: Das war über viele Jahre die politische Devise, wenn es um die Vignettenbefreiung der Inntalautobahn bis Kufstein Süd ging. Derweil erstickte die Bevölkerung vor Ort und in der Region im Mautfluchtverkehr. Heute beschließt der Nationalrat die Wiedereinführung. In deren Windschatten fordert LH Günther Platter (VP) von einer zukünftigen Bundesregierung ein eigenes Transit-Kapitel im Koalitionspakt ein. Dagegen wäre nichts einzuwenden – sofern der Inhalt passt.
Mit der Vignettenbefreiung für fünf Autobahnabschnitte wird ein chronischer Schmerz behandelt, nicht geheilt. Daran ändert auch die Evaluierung bis 2021 nichts. Die Vignettenbefreiung wird Früchte tragen, kein Zweifel. Auf lange Sicht ist es aber schlicht das falsche Signal. Dass das Vignettensys­tem in Sachen Umwelt- und Klimaschutz nicht verursachergerecht ist und verkehrstechnisch kaum Lenkungseffekte erzielt, ist nahezu unumstritten. Österreich braucht ein neues System. Eines mit einer fahrleis­tungsabhängigen Komponente.
Beim Schwerverkehr verhält es sich nicht viel anders. Die Tiroler Blockabfertigungen sind ein nettes „Servus“ an die Bayern – von der Fahrt über den billigsten aller Alpenpässe hält das keinen Frächter ab. Und auch das „Sektorale“ hat den Anstieg auf 2,4 Mio. Lkw pro Jahr am Brenner nicht verhindert.
Ein Transitkapitel von Türkis-Grün müsste sich denn schon tatsächlich zur uneingeschränkten Bekämpfung des transitierenden Lkw-Verkehrs bekennen, will man über homöopathische Rezepte hinauskommen. Das generelle Ende des Dieselprivilegs? Einzig Schwarz-Grün in Vorarlberg bekennt sich als Regierung dazu. Bald-Wieder-Kanzler Sebastian Kurz will das nicht. Platter fordert höchstens höhere Dieselpreise auf der Brennerroute. Und auch um generelle Abfahrverbote zu Billig-Tankstellen ist es verdächtig ruhig geworden. Die paktierte Kapazitätssteigerung der Rollenden Landstraße ist richtig – forciert müsste aber der unbegleitete Kombiverkehr werden. Das geht nur, wenn die Kostenwahrheit zwischen Schiene und Straße kein Schlagwort bleibt. 2028 geht der Brennerbasistunnel in Betrieb. Und auch um eine CO2-Steuer wird man sich nicht drücken können. Aufkommensneutralität hin oder her.
Die ÖVP wird sich im Bund schnell klar werden müssen, ob die Vignettenbefreiung erst der Anfang oder schon wieder das Ende einer neuen Verkehrsdebatte sein soll. Detto sind die Grünen als Koalitionspartner in spe in der Pflicht: Die bloße Rolle als regierungsinterner Mahner wird zu wenig sein.

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