Tiroler Tageszeitung, Leitartikel, Ausgabe vom 4. Juni 2020. Von MICHAEL SPRENGER. “Verfreundete Nachbarn”.

Innsbruck (OTS) – Die Reisebeschränkungen werden früher als verlautbart gelockert. Dies könnte die Regierung vielleicht zum Anlass nehmen, ihre Bevormundungspolitik zu beenden – und zurückzukehren auf einen europäischen Kurs.

Für viele Bürger wird der Urlaub heuer zu Hause stattfinden. Über 500.000 Österreicher haben in Folge des Lockdowns ihren Job verloren, knapp 1,2 Millionen befinden sich in Kurzarbeit. Bei vielen Menschen löst dieser unverschuldete Einschnitt in ihr Arbeitsleben existenzielle Sorgen aus. Diese Verunsicherung äußert sich in Verzicht, der Urlaub ist im Kopf schon längst gestrichen worden. Die Bundesregierung hat ihres dazu beigetragen, diesen Verzicht anfangs erträglicher zu gestalten. Er trifft nicht nur die Verlierer der Krise. Der Sommerurlaub werde auch für jene, die es sich leisten könnten, heuer nicht dort – wie geplant – für Erholung sorgen. Wenn überhaupt, dann vielleicht Sommerfrische in Österreich. Denn die Grenzen bleiben zu, die Flieger am Boden.
Doch dann stellten sich gottlob schon bald die von der Regierung gestreuten Angstszenarien als nicht haltbar heraus. Die Zahl der Infizierten blieb vergleichsweise niedrig, das Gesundheitssystem war nicht in Gefahr. Die Regierungsspitze will auch nicht mehr daran erinnert werden, dass sie noch im April von 100.000 Toten allein in Österreich gesprochen hat.
Stattdessen wurde also wieder ein Urlaub für möglich erachtet, aber dieser sollte im eigenen Land verbracht werden, trommelten der Kanzler und seine Tourismusministerin. Die Absicht hinter dem Trommelwirbel: Der heimischen Tourismusbranche muss geholfen werden. Doch weil die Österreicher diese Rettungsaktion allein nicht stemmen können, war eine Grenzöffnung zu den verfreundeten Nachbarn in Deutschland wichtig. Deutsche willkommen! Aber damit sollte es genug sein. Die Route vom Norden aus betrachtet zum Mittelmeer sollte geschlossen bleiben. Mit Blick auf den heimischen Fremdenverkehr mag dies alles verständlich sein. Doch ein europäischer Zugang ist dies keinesfalls.
Jetzt werden die Grenzen – früher als zuletzt verlautbart – zu den Nachbarn geöffnet. Nur die Reise nach Italien soll wohl erst in der zweiten Junihälfte möglich sein. Wer dann noch nicht in Österreich gebucht hat, soll an das Meer fahren – sofern er sich einen Urlaub leisten kann. Sollen wir jetzt dankbar sein? Nein. Aber eine Bitte haben wir: Hört auf, uns länger zu bevormunden. Wir wissen, was wir uns zumuten können. Die Koalition sollte hingegen – mit Blick auf die desaströsen Wirtschaftsdaten – wieder rasch einen europäischen Kurs steuern.

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