TIROLER TAGESZEITUNG „Leitartikel“ Dienstag, 30. März 2021, von Michael Sprenger: „Einschläge nahe dem Kanzleramt“

Innsbruck, Wien (OTS) – Vom angekündigten neuen Stil der Kanzlerpartei ist nur noch wenig übrig. Mag sein, dass der Postenschacher auch in früheren Regierungen auf der Tagesordnung stand. Doch nie wurde dieser so eindringlich dokumentiert wie heute.

Thomas Schmid gehört wie Gernot Blümel zum engsten Kreis von Bundeskanzler Sebastian Kurz. Alle drei verbindet der Drang, Österreich nach ihren Vorstellungen jenseits des seit Jahren bestimmenden politischen Systems einer großen Koalition umzubauen. Alle drei wurden vom früheren ÖVP-Obmann Michael Spindelegger gefördert. Nach dem Rücktritt von Spindeleggers Nachfolger Reinhold Mitterlehner war die Zeit gekommen, diese Politik des „neuen Stils“ zu verankern. Kurz kündigte die Koalition mit der SPÖ auf, die schwarze ÖVP wurde türkis eingefärbt, die langjährige Kanzlerpartei SPÖ auf die harte Oppositionsbank verbannt. Mit dem freiheitlichen Trio Heinz-Christian Strache, Norbert Hofer und Herbert Kickl im Bündnis fand der Umbau statt.
Doch das Neue am Stil manifestierte sich nicht am Methodischen, sondern an der politischen Inszenierung und dem Willen, die Sozialdemokraten auf Jahre von der Macht fernzuhalten. Bis zum Bekanntwerden des skandalösen Inhalts des Ibiza-Videos lief ja auch vieles nach dem erarbeiteten Drehbuch ab.
Während jedoch Strache mit seinen Aussagen auf Ibiza die später erst zu bildende Koalition mit Kurz in die Luft sprengen sollte und sich ins Abseits schoss, schien an der Teflonschicht des Kanzlers alles abzuperlen. Doch die Einschläge kommen immer näher an das Kanzleramt. Es sind keine geheimen Videoaufnahmen, die für massive Unruhe sorgen, sondern ausgewertete Chat-Protokolle von zuvor beschlagnahmten Handys seiner Vertrauten.
Dass Schmids Handys mit seinen (zuvor gelöschten und dann wiederhergestellten) Tausenden Nachrichten für Kurz zu einer Bedrohung werden kann, darüber ist man sich im Kanzleramt längst einig. Was jetzt im Zusammenhang mit der Konstruktion der neuen Staatsholding ÖBAG und der maßgeschneiderten Ausschreibung für Schmid als deren Alleinvorstand bekannt geworden ist, bringt im Zusammenhang mit der Postenschacherei ein Sittenbild zu Tage. Kann sein, dass Koalitionen früher auch so agiert haben, doch nie wurde dies so dokumentiert. Die Hybris der neu glänzenden Regierung glaubte wohl, dass das Machtzentrum für die Staatsanwaltschaft eine Tabuzone bleibt. Ein fataler Irrtum. Der neue Stil wurde entlarvt.
Und Spindelegger? Er nannte einst die Befreiung der ÖVP vom „Nimbus der Korruption“ als seinen größten Erfolg. Heute klingt das fast wie ein Treppenwitz.

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