TIROLER TAGESZEITUNG „Leitartikel“ vom 21. Mai 2021 von Michael Sprenger „Der Auftritt der Heuchler“

Innsbruck (OTS) – Ermittlungen gegen Politiker sorgen für aufgeladene Debatte mit Zeigefinger. Da geht es um Beschädigungen, Fehlverhalten, mangelnde Rücktrittskultur, Verlogenheit und naturgemäß immer wieder um tiefe Betroffenheit.

Thomas Bernhard sah in seinem Essay aus den späten 1970er-Jahren die „Kleinbürger auf der Heuchelleiter“. Er beschrieb naturgemäß die politische Klasse des Landes. Heutzutage sind die Heuchler keinesfalls weniger geworden, ganz im Gegenteil: Sie steigen nur nicht mehr die Leiter hoch, sondern schwindeln sich entlang von roten Linien, die sie zuvor gezogen haben. Übertreten werden sie zudem immer von den anderen.
Würde man juristische Kriterien anwenden, dann muss Sebastian Kurz bei einer Anklage als Kanzler selbstverständlich nicht zurücktreten. Ein Angeklagter ist kein Verurteilter. Problematisch wird es für Kurz nur dann, wenn innerparteiliche Kriterien zur Anwendung kommen. Für Kurz’ Förderer und Vorgänger Michael Spindelegger war klar: Ein Politiker muss bei einer Anklage den Hut nehmen. Spindelegger ließ nach Korruptionsfällen in der ÖVP einen Verhaltenskodex verabschieden und zeigte mit seinem Finger auf den roten Kanzler Werner Faymann, als gegen diesen ermittelt worden ist. Doch jetzt will Kurz von diesen ethischen Fragen nichts hören. Und wenn ein ÖVPler, wie zuletzt Tirols Wirtschaftskammer-Präsident Christoph Walser, glaubt, im Fall Kurz moralisch argumentieren zu müssen, dann wird von der Parteizentrale so lange telefoniert, bis dieser zähneknirschend zurückrudert. Doch kommen wir zurück zum Kanzler.
Kurz attackierte zuletzt die Politik des Anzeigens. Er meint damit natürlich nicht seine Parteifreunde im Burgenland, die dort in der Opposition SPÖ-Landeshauptmann Hans Peter Doskozil angezeigt haben. Auch der Landeschef ist im Visier der Staatsanwaltschaft. Wird Doskozil bei Anzeige seinen Hut nehmen? Nein, auch wenn seine Vorsitzende Pamela Rendi-Wagner ihm dies nahegelegt hat. Ihm sind die roten Linien seiner Chefin sehr egal.
Und bei den Blauen? Gegen FPÖ-Chef Norbert Hofer wird wegen des Verdachts der verbotenen Geschenkannahme ermittelt. Geht er, wenn er auf der Anklagebank Platz nehmen muss? Er verneint, schließlich habe er „immer korrekt“ gehandelt. Die FPÖ fordert aber jetzt schon den Rücktritt von Kurz.
Und was macht die Politik des Anstands? Sie zeichnet Linien je nach Ereignis. Denkbar, dass für die Grünen Kurz auch bei einer Anklage tragbar ist. Und muss ÖVP-Finanzminister Gernot Blümel bei einer Anklage gehen? Ja, denn da kommt für die grüne Klubobfrau die rote Linie zum Tragen.
Spannend – so eine Linie ist keinesfalls eine Richtschnur oder geometrisches Gebilde, sondern eine willkürliche Kante für Heuchler.

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