TIROLER TAGESZEITUNG „Leitartikel“ vom 30. Dezember 2021 von Christian Jentsch „Spiel mit den Werten in der Außenpolitik“

Innsbruck (OTS) – Im Kampf des Westens gegen autoritäre Herrschaftssysteme ist viel von Werten die Rede. Gut so. Doch im Umgang mit den Werten zeigt man sich sozusagen situationselastisch. Was enorm an der Glaubwürdigkeit zehrt.

Die neue Welt scheint wieder ganz nach den alten Mustern zu funktionieren. Der Wettstreit der Systeme – der Kampf zwischen den Autokraten und den liberalen Demokratien westlicher Prägung – bestimmt das Weltgeschehen. Und seit dem Machtwechsel im Weißen Haus, seit dem Amtsantritt des demokratischen Präsidenten Joe Biden, der die außenpolitische Geisterfahrt seines um sich schlagenden Vorgängers Donald Trump stoppte, wird die Wiedergeburt eines erstarkten geeinten Westens unter Führung der USA gefeiert. Das Debakel der USA und ihrer Verbündeten in Afghanistan soll da nicht weiter stören.
Amerika ist zurück, der Westen ist zurück und die Moral in der großen Politik auf der Weltenbühne soll auch wieder zurück sein. Von einer wertebasierten Außenpolitik ist wieder die Rede – bei US-Präsident Joe Biden und auch bei der neuen deutschen Außenministerin Annalena Baerbock.
Und der Westen ist gefordert. Im zu eskalieren drohenden Ukraine-Konflikt scheinen die Rollen klar verteilt. Der Wes­ten muss sich gegen die Großmachtgelüste und das autoritäre System des russischen Präsidenten Wladimir Putin stellen. Doch nicht nur gegen Putin will der Westen vereint Stärke zeigen. Auch China, das die USA als alleinige Weltmacht zunehmend herausfordert, soll in die Schranken gewiesen werden.
Es ist ein hehres Ziel, Außenpolitik nicht nur wirtschaftspolitisch und geostrategisch zu definieren, sondern sie entlang eines Wertekanons auszurichten. Es sind hohe Hürden, die es dabei zu überspringen gilt.
Und sie scheinen tatsächlich zu hoch zu sein. Denn Werte und Moral nur da zu bemühen, wo sie gerade in das Freund-Feind-Schema hineinpassen, ist keine allzu schwierige Übung. Natürlich muss man klar Position gegen eklatante Menschenrechtsverletzungen in China und Russland beziehen. Und auch mit entsprechender Politik reagieren. Es wäre aber auch längst an der Zeit, im Verhältnis zu unseren fragwürdigen Verbündeten diese Werte endlich einzufordern. Sonst verkommen die Appelle zu einer wertebasierten Außenpolitik schnell zu wertlosen Sonntagsreden. Warum etwa unter anderem brutale Regime im Nahen Osten, die ihre Gegner brutal töten oder einkerkern lassen, keinerlei Opposition oder Andersdenkende zulassen und die vom Wort Menschenrechte noch nie etwas gehört zu haben scheinen, beste Freunde des Westens sind und als eifrige Waffeneinkäufer hofiert werden, ist mit den bemühten Werten und Moral nicht zu erklären. Das nennt man dann einfach Realpolitik. Von Glaubwürdigkeit bleibt da freilich nicht mehr viel übrig.

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