TIROLER TAGESZEITUNG „Leitartikel“, vom 28. April 2022, von Christian Jentsch:“Ein starkes Europa ist in weiter Ferne“

Innsbruck (OTS) – Angesichts der russischen Aggression gibt sich Europa geeint. Doch an einem wirklich starken und souveränen Europa herrscht in vielen Hauptstädten Europas wenig Interesse. Darüber hinaus vertiefen sich die gesellschaftlichen Gräben.

Der Krieg in der Ukraine hat Europa in seinen Grundfesten erschüttert. In den Trümmern des Krieges werden Hoffnungen begraben, wird die Zukunft verdunkelt. Europa als Hort der Demokratie, des Rechtsstaates und eines hohen Lebensstandards fühlt sich durch Russlands Angriffskrieg in der Ukraine in seiner Sicherheit bedroht. Und Sicherheit ist die Grundlage für wirtschaftliches Wachstum, für Innovation, für ein Gedeihen der Demokratie. Als Antwort auf die russische Aggression demonstrierten die EU-Länder zumindest oberflächlich Einigkeit. Und EU-Kommissions­präsidentin Ursula von der Leyen gab sich wortstark als Vorreiterin eines neuen geeinten Europa, das der angegriffenen Ukraine die Tür in die EU öffnet, und das in einem beschleunigten Verfahren. Die Hoffnung der Ukraine auf einen EU-Beitritt im Schnellverfahren wurde auf dem EU-Gipfel im März im Schloss Versailles freilich nicht erfüllt.
Doch wie stark ist das Fundament Europas jenseits der von PR-Agenturen aufgesetzten Phrasen? Frankreichs Präsident, der bekennende Pro-Europäer Emmanuel Macron, konnte sich vergangenen Sonntag in der Stichwahl zwar schlussendlich klar gegen die Rechtspopulistin Marine Le Pen durchsetzen, doch die gesellschaftlichen Gräben nicht nur in der Grande Nation werden immer tiefer, die politischen Ränder immer stärker, die Unzufriedenheit immer größer. Dass eine Rechtspopulistin über 40 Prozent der Stimmen erringen­ konnte, trübt den Erfolg Macrons. Jenes Präsidenten, der als einer der wenigen europäischen Top-Politiker das europäische Projekt weiter voranbringen will. Auf dem Gipfel in Versailles plädierte er für ein „stärkeres und souveräneres“ Europa. Ein Ansinnen, bei dem er wohl nur wenige Freunde finden wird. Europas Zeitenwende bezieht sich auf die Aufrüstung der NATO-Staaten angesichts der russischen Bedrohung, die Idee eines wirklich starken und souveränen Europa findet selbst in Brüssel nur wenig Widerhall. So wirklich weltpolitisch eigenständig will man offenbar doch nicht werden. Politisch ist der Wille zu einem immer enger verbundenen Europa also enden wollend. Und mehr noch: In vielen europäischen Hauptstädten wird alles dafür getan, dies zu verhindern. In Polen wird gar der Vorrang von EU-Recht in Frage gestellt. Ein rein wirtschaftlich miteinander verknüpftes Europa muss sich nicht um die rechtsstaatlichen Prinzipien als Grundpfeiler der EU scheren.
Und Europa droht eine weitere gewaltige Herausforderung. Wenn sich viele Bürger von der Politik generell abwenden, wenn die Zahl der so genannten „Abgehängten“ – und das nicht nur im ökonomischen Sinne – immer weiter wächst, müssen die Alarmglocken schrillen. Dann muss sich die Politik Fragen stellen, warum es so weit

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