Leitartikel „Böse Schurken, gute Schurken“ vom 30. Mai 2022 von Christian Jentsch

Innsbruck (OTS) – Seit Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine wird von einer Zeitenwende gesprochen. In der Außenpolitik soll auf Werte gesetzt werden. Ernsthafte Absichten sind aber keine erkennbar. Und die Konsequenzen wären einschneidend.

Von Christian Jentsch
Putins Angriffskrieg auf die Ukraine hat Europa 30 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges wieder in einen Kriegsschauplatz verwandelt. Der Krieg in der Ukraine hat scheinbare Gewissheiten und lieb gewonnene Erzählungen demaskiert, er nagt an Europas Stabilität, an Europas Reichtum und stellt uns vor neue Herausforderungen. Und er zeigt uns die hässliche Fratze der Globalisierung, die gerade dem Westen die vergangenen Jahrzehnte hohe Gewinne garantierte und uns noch gestern als alternativlos gepredigt wurde. Doch nun versteht Europa die einst so einträgliche Abhängigkeit von billigem Gas und Öl aus Russland als Falle. Als Falle, aus der europäische Politiker möglichst schnell zu entfliehen versuchen – entweder mit viel, viel teurerem Flüssiggas aus den USA oder mit Öl und Gas aus anderen autoritären Regimen etwa aus der Golfregion, von den guten Schurken sozusagen, denen man lieber nicht so genau auf die Finger schaut. Mit der viel zitierten wertebasierten Außenpolitik kann das dann freilich nichts zu tun haben – Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Frauenrechte oder rechtsstaatliche Strukturen spielen da dann ja offensichtlich überhaupt keine Rolle. Darüber hinaus tobt im bettelarmen Jemen seit Jahren ein blutiger Stellvertreterkrieg zwischen Saudi-Arabien und dem Iran, dessen Zehntausende Opfer niemanden zu interessieren scheinen. Hier wird Hunger schon lange als Waffe eingesetzt. Hier warten die verhungernden Menschen schon lange auf Hilfslieferungen, die wegen blockierter Häfen nicht ins Land kommen. Doch kein westlicher Politiker macht Druck auf jene, die diesen brutalen Krieg mit den sprudelnden Öleinnahmen finanzieren. Man breitet lieber das Tuch des Schweigens über eine Tragödie, die nicht weiter stören soll. Und was die aufstrebende Weltmacht China betrifft, will man sich im Westen abgesehen von Sonntagsreden auch nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Ohne den Westen, ohne die globalisierte Wirtschaft wäre der rasante Aufstieg Chinas nie möglich gewesen, da sollten die lästigen Fragen nach Menschenrechten nicht im Wege stehen. Und heute ist China ein riesiger Markt, den man – trotz der Verbrechen an den Uiguren – nicht aufgeben will. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg mahnte jüngst beim Weltwirtschaftsforum in Davos, die Handelsbeziehungen zu China und anderen autoritär geführten Ländern zu überprüfen. Freiheit sei wichtiger als Freihandel, erklärte er. Und wusste wohl, dass es diesbezüglich bei Sprechblasen bleiben würde. Selbst in der NATO – siehe Türkei – ist der Rechtsstaat auf dem Rückzug. Wertebasierte Außenpolitik ist ein schönes Schlagwort. Doch wer Werte nur situationselastisch einsetzt, verliert schnell seine Glaubwürdigkeit.

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