TIROLER TAGESZEITUNG „Leitartikel“ vom 29. Juli 2022 von Michael Sprenger „Trotz alledem Freundschaft“

Innsbruck (OTS) – Kanzler Karl Nehammer suchte nicht offen die Gegensätze zu Ungarns Premier Orbán, doch er benannte die Widersprüche. Betont wurde von beiden die Freundschaft und gemeinsame Migrationspolitik. Ein heikles Unterfangen.

Viktor Orbán hatte die vergleichsweise einfachere Aufgabe. Die Position des nationalkonservativen Politikers ist seit Jahren eine eindeutige. So wundert es wenig, dass sich der ungarische Premier selbst im Beisein von Kanzler Karl Nehammer als „einzig offen einwanderungsfeindlichen EU-Politiker“ bezeichnete. Damit rechtfertigte er auch seine jüngsten Aussagen zur „Rassenvermischung“, überging aber seine deplatzierte Anspielung auf die Gaskammern der Nazis.
Der Verfechter einer „illiberalen Demokratie“ legt sich immer wieder quer bei gemeinsamen EU-Positionen – wie zuletzt auch in der Haltung Brüssels gegenüber dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und der Sanktionspolitik.
Karl Nehammers Aufgabe war hingegen heikel. Er wusste, er musste auf Distanz zu Orbán gehen. Also sagte er, was notwendig war. Österreich war Teil des verbrecherischen NS-Regimes. Verharmlosung von Rassismus und Antisemitismus sei nicht akzeptabel. Dies sagte er in „aller Freundschaft“. Mehr aber nicht. Orbán hörte zu und griff kurz in sein Rhetorik-Handbuch. Er betonte seinen Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus, er verfolge bloß einen anderen „philosophischen Zugang“, denn er sieht in der Migration keine rassistische, sondern eine kulturelle Frage.
Das nahm Nehammer schweigend zur Kenntnis. Eine Freundschaft riskiert man nicht einfach so. Schließlich verbindet ihn mit Orbán eine gemeinsame Linie in der Migrationspolitik. Orbán machte klar, dass seine Politik Österreich zugutekommt. Er bezeichnet sich als „Burghauptmann“. Wenn er die Grenze nicht schützt, „würden illegale Migranten zu Hunderttausenden bei Ihnen eintreffen“. Deshalb will Orbán einen Pakt mit Österreich und Serbien gegen die illegale Migration. Das will Nehammer auch. Seit dem früheren Kanzler Sebastian Kurz hat sich in dieser Frage die ÖVP-Politik nicht geändert.
Keinen sofort erkennbaren Gleichklang finden die beiden befreundeten Politiker in ihrer Positionierung gegenüber Putin. Oder doch? Orbán kritisiert die Sanktionspolitik der EU gegenüber Russland. Nehammer glaubt, dass die Sanktionen wirken, wenn auch nicht sofort. Beide haben Sorgen vor einem Gasembargo. Egal, ob dies Brüssel oder Moskau verfügen sollte. Orbán baut vor, sucht einen eigenständigen Weg zu Putin. Das will der Kreml-Besucher Nehammer nicht. Jedoch stellt er klar, dass Sanktionen zu überdenken sind, wenn sie dem mehr schaden, der sie beschließt. Er baut auf das Prinzip Hoffnung – und auf das Prinzip Freundschaft.

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