100. Sitzung des österreichischen Kunstrückgabebeirats

Fünf Empfehlungen beschlossen

Der österreichische Kunstrückgabebeirat beschloss in seiner heutigen 100. Sitzung (29. November 2022) Empfehlungen zu Objekten aus dem Heeresgeschichtlichen Museum / Militärhistorischen Institut, dem Theatermuseum, der Universitätsbibliothek Wien, dem Naturhistorischen Museum Wien sowie dem mumok – Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien.

Im Fokus des ersten Falles stand die umfangreiche Sammlung des jüdischen Fleischhändlers Saul Juer. Nachdem diesem nach dem „Anschluss“ 1938 die Bewilligung seines Verkaufsstands in der Großmarkthalle in Wien-Landstraße entzogen worden war, sah er sich gezwungen, sein Unternehmen im Juni 1938 aufzulösen. Als er kurz darauf auch seine langjährige Wohnung aufgeben musste, bot Juer, der Mitglied im Verein der Freunde asiatischer Kunst und Kultur war und innerhalb von dreißig Jahren eine umfangreiche Sammlung von u.a. Kunst- und Kulturgegenständen, Judaica und Keramiken angelegt hatte, dem damaligen Heeresmuseum Werke zum Verkauf an. Dieses erwarb letztlich über 570 Objekte, darunter Gemälde, Stiche, Mandlbögen, Bücher und Fayencen. Nachdem seine Frau Helene Ende 1941 verstorben war, musste Saul Juer in eine Sammelwohnung übersiedeln, von der er zunächst ins NS-Ghetto Theresienstadt und zwei Jahre später, im Mai 1944, in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz deportiert wurde, wo er zu einem unbekannten Zeitpunkt einen gewaltsamen Tod erlitt. Die Erwerbungen des Heeresmuseums wertete der Beirat als nichtige Rechtsgeschäfte im Sinne des Nichtigkeitsgesetzes und empfahl die Rückgabe.

Der Beirat befasste sich des Weiteren mit der Herkunftsgeschichte zweier Aquarelle von Giovanni Battista Minghi, die sich seit 1950 im Theatermuseum (KHM-Museumsverband) befinden. Sie waren Teil der Kunstsammlung von Julius Neumann (1864–1923), des Unternehmers und Mitgründers des prominenten Herrenkonfektionshauses „M. Neumann“ in der Kärntnerstraße, an dessen Stelle sich heute das Kaufhaus „Steffl“ befindet. Nach dem „Anschluss“ gab Neumanns Witwe Martha u.a. die beiden Kostümentwürfe in ihrer Vermögensanmeldung an. Noch im Mai 1938 glückte ihr die Flucht aus Wien, und sie traf im August 1941 mit zwei ihrer ebenfalls geflohenen Kinder in New York zusammen. Unterdessen waren ihre wertvollen Einrichtungs- und Kunstgegenstände bei der Spedition E. Bäuml eingelagert und Teile davon beim Kunstversteigerungshaus Adolf Weinmüller Wien zur Versteigerung angeboten worden. Der Rest wurde 1940 durch die Gestapo beschlagnahmt und in weiterer Folge von der „Verwaltungsstelle für jüdisches Umzugsgut der Gestapo“ (VUGESTA) im Dorotheum verwertet. Obwohl Martha Brown-Neumann nach Kriegsende die Aquarelle im Antiquariat V.A. Heck lokalisierte, kam es zu keiner Rückgabe. Heck veräußerte die Blätter schließlich an das heutige Theatermuseum. Der Beirat wertete diese Rechtshandlungen als nichtig gemäß Nichtigkeitsgesetz und empfahl die Übereignung der beiden Kostümentwürfe an die Rechtsnachfolger:innen nach Martha Brown-Neumann. Auch hier ist, wie bei Saul Juer, zu betonen, dass der überwiegende Großteil der jeweiligen ursprünglichen Sammlung bis heute verschollen ist.

In Bezug auf 83 Bücher aus der Bibliothek des Märchenforschers Albert Franz Maria Wesselski, die sich heute in der Universitätsbibliothek Wien bzw. aufgrund ihres Erscheinungsdatums vor dem Jahr 1800 im Eigentum des Bundes befinden, empfahl der Beirat hingegen keine Rückgabe. So konnte nicht belegt werden, dass Wesselski oder seine Frau Maria dem Kreis der NS-Verfolgten Personen zuzurechnen wären, vielmehr wurde Wesselskis Lehrbefugnis an der Universität Graz im April 1938 aufgrund des Nichteinhaltens der geltenden Habilitationsnorm von 1920 ruhend gestellt. Nach seinem Tod 1939 führte Maria Wesselski die bereits zu seinen Lebzeiten begonnenen Verkaufshandlungen bezüglich seiner rund 9.000 Werke umfassenden Bibliothek fort. Infolge des Einmarsches Adolf Hitlers in Prag und der Errichtung des Protektorats Böhmen und Mähren fiel jedoch der bis dahin wichtigste Interessent, die Indiana University (USA), weg. Vielmehr setzte sich Walter Grothe für einen Ankauf durch die „Zentralbibliothek der Hohen Schule der NSDAP“ in Berlin ein, um die Wesselski-Bibliothek der im Aufbau begriffenen Abteilung „Forschungsstelle Mythenkunde“ zuzuführen – mit Erfolg. Der Beirat kam zu dem Schluss, dass insbesondere der Beginn des Zweiten Weltkriegs den Kreis der am Kauf Interessierten sich auf die Zentralbibliothek der Hohen Schule der NSDAP reduzierte. Der Verkauf selbst sei jedoch nicht als nichtig im Sinne des Nichtigkeitsgesetzes zu qualifizieren, weshalb der Beirat empfahl, die Bücher nicht zurückzugeben.

Ähnlich gelagert ist die Schlussfolgerung bezüglich der Erwerbung eines ägyptischen Mumienkopfs durch das Naturhistorische Museum Wien im Jahr 1941/42, laut Inventarbuch eingebracht durch Maria Engländer. Deren Ehemann Otto Engländer war leitender Generaldirektor der Skodawerke-Wetzler AG (SWW), des damals größten Chemieunternehmens Österreichs. Wiewohl Maria und Otto Engländer, wie der Beirat feststellte, nicht zum Kreis der NS-Verfolgten zählen sollten, änderte sich Ottos berufliche Situation infolge des „Anschlusses“ grundlegend, da die deutsche IG Farben die SWW zu erwerben beabsichtigte. Im Juni 1938 fusionierten nach Freigabe durch den NS-Staatskommissar Walter Rafelsberger mehrere ehemals österreichische Chemie-Unternehmen zur Donau-Chemie im Eigentum der IG Farben. Nachdem Otto Engländer zunächst u.a. interimistischer Generaldirektor der SWW geblieben war, kam es im Juni 1939 zu seiner vorzeitigen Pensionierung. Kurz darauf wurde er gezwungen, seinen Aktienanteil des Unternehmens Sprengstoffwerke Blumau AG zu verkaufen. Wiewohl der Beirat weder die wirtschaftliche Lage, in welcher sich Otto Engländer nach dem „Anschluss“ befand, noch die grundsätzliche wirtschaftliche Durchdringung der SWW durch die IG Farben übersah, konnte er keinen Zusammenhang mit dem Verkauf der Mumie durch Maria Engländer erkennen.

Abschließend befasste sich der Beirat mit acht Werken Raoul Hausmanns, sämtlich betitelt mit „Abstrakte Bildidee“, die das damalige Museum des 20. Jahrhunderts im Jahr 1961 von Sibyl Moholy-Nagy, der Witwe des 1946 verstorbenen Künstlers und einstigen Freundes Hausmanns László Moholy-Nagy, angekauft hatte. Zahlreiche Korrespondenzen zeugen von einem sich über Jahrzehnte hinziehenden Streit zwischen Hausmann und Moholy-Nagy, ob er die Blätter seinem Freund geschenkt, wie dessen Witwe es darstellte, oder ob er sie lediglich zum Weiterverkauf in Verwahrung gegeben hatte. Nachdem jedoch die umfassenden Recherchen der Kommission für Provenienzforschung ergaben, dass sich die Blätter bis 1946 in der Verfügung Raoul Hausmanns befunden hatten, die Übergabe also nach dem 8. Mai 1945 stattfand, ist klargestellt, dass die Blätter während der NS-Zeit im Eigentum Raoul Hausmanns standen und damit keine nichtige Rechtshandlung vorlag, weshalb gemäß Kunstrückgabegesetz keine Rückgabe zu empfehlen war.

Die Beschlüsse sind im Wortlaut auf der Webseite der Kommission für Provenienzforschung unter www.provenienzforschung.gv.at wiedergegeben.

Der Vorsitzende des Kunstrückgabebeirats Clemens Jabloner freut sich nach der 100. Sitzung über die hohe Produktivität der Kommission für Provenienzforschung, deren Arbeit die Grundlage für die vom Beirat getroffenen Empfehlungen formt. In hundert Sitzungen sprach der Kunstrückgabebeirat seit 1998 Empfehlungen zu 390 Fällen aus. Die Aufarbeitung des nationalsozialistischen Vermögensentzugs sei jedoch, was deren Auswirkungen auf die Sammlungen des Bundes, insbesondere die Bundesmuseen, betrifft, freilich keineswegs abgeschlossen, mahnt Jabloner ein.

Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport
Mag. Ina Gayed, MA
Pressesprecherin der Staatssekretärin für Kunst und Kultur
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