TIROLER TAGESZEITUNG, Leitartikel: “Viel Rückenwind für Kurz”, von Alois Vahrner

Ausgabe vom Montag, 27. Mai 2019

Innsbruck (OTS) – Heute droht Bundeskanzler Sebastian Kurz die Abwahl als Kanzler im Parlament – die gestrige EU-Wahl war angesichts kräftiger Gewinne für den ÖVP-Chef allerdings alles andere als ein Misstrauensvotum.

Auch ohne Ibiza-Skandal um FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache und anschließendes Ende der türkis-blauen Koalition wäre die EU-Wahl eine Testwahl für die heimische Innenpolitik gewesen: Mit der heute nach den Äußerungen von SPÖ- und FPÖ-Spitzen wahrscheinlichen Abwahl von Kurz bekam der Urnengang gestern eine ganz besondere Brisanz – was sich auch in der erfreulicherweise deutlich gestiegenen Wahlbeteiligung niederschlug.
Die ÖVP ging als Favorit für Platz 1 in die EU-Wahl, die Zugewinne (auch über dem letzten Ergebnis der Nationalratswahl mit Kurz) fielen aber zweifellos noch um einiges kräftiger aus, als es die Umfragen der letzten Wochen erwarten ließen. Insofern ist die vieldiskutierte Doppel-Spitze in Gestalt des Alt-Schwarzen Othmar Karas und der auf der türkisen Kurz-Linie operierenden Karoline Edtstadler ebenso aufgegangen wie der Vorzugsstimmen-Wettlauf aller Kandidatinnen und Kandidaten. Vor allem aber war dies gestern ein Sieg und eine Kraft-Spritze für Kurz und dessen bevorstehenden Wahlkampf. Laut Umfragen ist die Mehrheit der Bevölkerung gegen eine Abwahl des Kanzlers, dessen Aussichten als rot-blaues Polit-Opfer auf ein noch einmal spürbar besseres Ergebnis als gestern sind günstig – wenn auch in der recht langen Phase bis zur Neuwahl im September noch vieles passieren kann.
Der bisherige Koalitionspartner FPÖ, der nach Auftauchen des Strache-Skandalvideos aus der Regierung flog, kam gestern mit einem blauen Auge davon. Die Verluste gegenüber der letzten EU-Wahl waren bescheiden, gegenüber den Vor-Ibiza-Umfragen mit etwa 23 Prozent lagen die gestrigen Einbußen freilich schon höher. Wohl weil die Partei ziemlich einig blieb (mit Faserschmeichler-Aussagen von Neo-Chef Norbert Hofer und dem zu harten ÖVP-Attacken zurückgekehrten Herbert Kickl), ist zumindest ein Einbruch wie einst nach Knittelfeld nicht in Sicht.
Bisher überhaupt nicht vom Skandal und dem abrupten Koalitions-Ende inklusive türkis-blauem Rosenkrieg profitieren konnte die SPÖ – und das nicht nur wegen ihres blassen Spitzenkandidaten (den hatten andere auch). Nach Wahlflop und langer Findungsphase ist es für die Sozialdemokraten zwar in jedem Fall reizvoll, sich heute bei Kurz zu revanchieren und ihn aus dem Amt zu kicken. Einen Wahlturbo sollte sich die Parteiführung – siehe gestern – davon freilich nicht versprechen. Und wenn die SPÖ dann im Herbst mangels anderer Varianten möglicherweise mit Kurz ins Koalitionsboot steigen muss, wird eine Erklärung der heute drohenden Abwahl wohl extrem schwierig.

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