Leitartikel “Gesellschaft ohne Zwischentöne” vom 20. November 2020 von Mario Zenhäusern

Innsbruck (OTS) – Befürworter und Gegner der Corona-Maßnahmen liefern sich einen Schlagabtausch. Die Fronten sind total verhärtet. Dabei geht es längst nicht mehr darum, wer Recht hat: Jetzt gilt es, das Gesundheitssystem vor dem Kollaps zu bewahren.

Von Mario Zenhäusern
In Berlin gingen am Mittwoch Tausende Menschen auf die Straße, um gegen die von der deutschen Bundesregierung verordneten und im Vergleich mit Österreich ohnedies milderen Maßnahmen gegen die weitere Verbreitung des Coronavirus zu protestieren. Weil sie dabei ganz bewusst gegen die simpelsten Regeln wie Abstand und Mundschutz verstießen, löste die Polizei die Versammlung auf. Unter die Kritiker des deutschen Corona-Kurses hatten sich, wie schon bei ähnlichen Veranstaltungen, wieder Vertreter des rechten und rechtsextremen Lagers gemischt. Die Demonstranten lieferten den Uniformierten eine wilde Straßenschlacht. Fazit: 365 Festnahmen, zehn verletzte Polizisten, drei davon schwer.
Das Beispiel von Berlin belegt, wie verhärtet die Fronten sind. Auch in Österreich. Hierzulande sind die Auseinandersetzungen zwar nicht so gewalttätig wie in Deutschland, dafür liefern sich die Exponenten der heimischen Pro- und Anti-Corona-Lager in Internetforen und sozialen Medien einen heftigen, von wechselseitigen Untergriffen geprägten Schlagabtausch. Die Gesellschaft ist gespalten wie selten zuvor. Statt sich mit dem Problem an und für sich und möglichen Lösungsansätzen auseinanderzusetzen, werden ausschließlich die Argumente der jeweiligen Gegenseite zerpflückt, Vorwürfe ausgetauscht und Ressentiments geschürt. Es gibt nur noch Schwarz oder Weiß, Gut oder Böse. Die wichtigen Grau- und Zwischentöne, die zu einem funktionierenden Zusammenleben gehören, sind verschwunden. Ganz zu schweigen vom demokratischen Grundkonsens, der das Rückgrat eines Staates wie Österreich ist. Verschlimmert wird dieser Riss, der sich wie der Grand Canyon durch unser soziales Gefüge zieht, durch die offensichtliche Uneinigkeit der Wissenschaft, die ihren Teil zur Verunsicherung der Menschen beiträgt. Das und die nicht zuletzt daraus resultierende Ohnmacht der Politik fördern nur eines: Angst. Mittlerweile geht es aber längst nicht mehr darum, welches der beiden Lager nun letztlich Recht hat. In Krankenhäusern und vor allem in den Senioren- und Pflegeheimen sterben immer mehr Menschen mit oder am Coronavirus, die Intensivstationen platzen aus allen Nähten. Jetzt gilt es, das Gesundheitssystem vor dem drohenden Kollaps zu bewahren. Die Alternative ist, sollten die Zahlen nicht rasch und massiv sinken, das unnötige Leiden und Sterben von Menschen – und das kann niemand allen Ernstes wollen.

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