TIROLER TAGESZEITUNG „Leitartikel“ vom 25. März 2022 von Michael Sprenger „Zumindest Kämpferin“

Innsbruck (OTS) – Im politischen Ring zeigt Pamela Rendi-Wagner Nehmer- und Steherqualitäten. Jetzt will sie mit einer „Kanzlerinrede“ ihren Anspruch auf das Kanzleramt untermauern. Die ÖVP könnte dafür sorgen, dass sie dort auch bald einzieht.

Jetzt also eine „Kanzlerinrede“. Eines kann man der SPÖ-Vorsitzenden Pamela Rendi-Wagner nicht absprechen: Sie hat Nehmer- und Steherqualitäten. Nach dem mehr als peinlichen Abgang von Christian Kern übernahm sie als erste Frau den Vorsitz der SPÖ. Sie führte die Sozialdemokraten 2019 in die Nationalratswahl und erreichte für die SPÖ mit 21,2 Prozent das schlechteste Wahlergebnis. Ihre bisherige Amtszeit war geprägt von parteiinternen Intrigen und fehlendem Gespür für Politik. Mit einer Vertrauensfrage unter allen Parteimitgliedern versuchte sie einen Befreiungsschlag. Der Schachzug war mutig – aber er sorgte nicht für Geschlossenheit. Aus der gesicherten Deckung heraus planten Heckenschützen auf dem Parteitag den nächsten Angriff auf ihre Parteichefin – und fügten ihr eine historische Schlappe zu. Doch Rendi-Wagner schüttelte sich immerzu ab, vertraute weiter auf ihre Einsagerinnen und Einsager – und machte weiter.
Obwohl intern weiter gesudert wird, scheint es mittlerweile ausgemacht, dass die SPÖ mit Rendi-Wagner in die Wahl gehen wird. Auch deshalb, weil der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig die Bundespartei nicht übernehmen will. Im Gegenteil: Er stellt sich demonstrativ hinter Rendi-Wagner. So dass interne Kritiker jetzt kleinlaut verkünden: Wir werden auch mit oder trotz Rendi-Wagner die nächste Nationalratswahl gewinnen. Und ja, es ist eine politische Binse: Nicht die Opposition gewinnt die Wahl, sondern eine Regierung verliert sie. Die Kanzlerpartei ÖVP, seit 35 Jahren ununterbrochen an der Macht, ist seit Monaten politisch gelähmt. Mit Affären, Skandalen und Beschuldigten sonder Zahl machte die ÖVP aus Österreich eine Skandalrepublik. Zudem beherrschten die von der ÖVP geführten Regierungen – zuletzt mit der FPÖ, jetzt mit den Grünen – nicht das politische Handwerk.
Eigentlich müsste angesichts dieser Vorgaben die SPÖ in Umfragen längst jenseits der 30-Prozent-Marke liegen. Wären da nicht die fehlende Geschlossenheit, die erbärmlichen Zustände der Partei in sechs Bundesländern – und ja, wären da auch nicht die Pannen und Fehler. Dass eine Partei, deren Domäne einst die Außenpolitik war, fast zwei Tage benötigt, um die von ihr mitverschuldete Posse rund um eine Videorede von Wolodymyr Selenskyi im Parlament zu beenden, spricht Bände. Am Sonntag könnte Rendi-Wagner Irritationen beseitigen und in ihrer Rede beweisen, dass sie außenpolitisch firm ist – und das Zeug zur ersten Kanzlerin hat. Bisweilen wissen wir nur: Sie hat Nehmer- und Steherqualitäten.

Tiroler Tageszeitung
0512 5354 5101
chefredaktion@tt.com

OTS-ORIGINALTEXT PRESSEAUSSENDUNG UNTER AUSSCHLIESSLICHER INHALTLICHER VERANTWORTUNG DES AUSSENDERS. www.ots.at
© Copyright APA-OTS Originaltext-Service GmbH und der jeweilige Aussender