
TIROLER TAGESZEITUNG, Leitartikel:“Schluss mit der Scham“, von Anna Haselwanter
Ausgabe vom Mittwoch, 8. Juni 2022
Innsbruck (OTS) – Mit Fortschreiten der Digitalisierung steigt die Kriminalität im Internet. Um sie bekämpfen zu können, braucht es eine ordentliche Bestandsaufnahme der Situation, viel mehr Problembewusstsein und Polizeipräsenz auch im Netz.
Das Internet ist kein rechtsfreier Raum. Das Internet ist ein rechtsfreier Raum. Das Internet ist beides und das gleichzeitig, das ist wie bei Schrödingers Katze – dem Gedankenexperiment aus der Quantenphysik, bei dem die Katze gleichzeitig tot und lebendig ist. So genau weiß man es eben nicht. Erst wenn eine Messung oder Beobachtung durchgeführt wird, kann der nicht unerhebliche Unterschied festgestellt werden, beschreibt Erwin Schrödinger 1935. Im Jahr 2022 verlagert sich das ganze Leben mehr denn je ins Internet. Überweisungen tätigen, shoppen, Urlaub buchen, Fotos posten, Konferenzen leiten, Rezepte suchen. Sich verlieben, sich trennen. Einen neuen Job suchen, den alten kündigen, ein Grundstück kaufen – real, vielleicht auch digital (Hallo Metaverse) – einen Film schauen, ein Buch lesen, Nachrichten tippen, videotelefonieren. Daten verlieren, sich radikalisieren, Hass verbreiten, welchen ernten. Opfer eines Betrugs werden. Der Enkeltrick, der Pakettrick, Smishing, Vishing, Phishing (nein, diese Wörter sind nicht erfunden), Love-Scamming, Malware, Datenklau. Ist der Link erst einmal angeklickt, ist das Geld schon über alle (virtuellen) Berge. Angezeigt wurden in Tirol im Vorjahr aber nur 3500 Fälle von Internetkriminalität– das betrifft alle genannten Bereiche und noch mehr. Und das kann sich schlicht nicht ausgehen. Denn das Internet ist kein rechtsfreier Raum, vielmehr gilt das Recht des jeweiligen Landes. Es braucht aber die Messung, die Beobachtung – und nicht zuletzt die Durchsetzung. Das ist zugegebenermaßen nicht leicht. Die Täter sitzen oft am anderen Ende der Welt, verstecken sich hinter anonymen Accounts, geschickt verstrickten Netzwerken. Die Opfer bringen die Angriffe häufig nicht zur Anzeige. Zu groß ist die Scham darüber. Firmen haben Angst um ihr Image. User gehen nur allzu locker mit ihren Daten um. Und die Polizei? Die hat in Tirol 30 IT-Ermittler, die für Recht und Ordnung sorgen sollen. Gleichzeitig wächst die Bedrohungslage – sie ist nur allzu real. 89 Prozent der österreichischen Unternehmen in den Bereichen Strom-, Öl- und Gasversorgung sowie Fertigung waren in den letzten zwölf Monaten laut einer aktuellen Studie von Cyberangriffen betroffen. Das ist kritische Infrastruktur. Mit der Attacke in Kärnten wurde eine Landesregierung in Österreich Zufallsopfer russischer Hacker. Die Schäden durch die Angriffe liegen im Millionenbereich, sind existenzbedrohend. Die Menschen müssen sich selbst besser schützen – und sie müssen besser geschützt werden. Die Politik muss die Voraussetzungen schaffen, die Polizei endlich online gehen – denn 30 IT-Ermittler werden nicht mehr reichen.
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