Tiroler Tageszeitung, Leitartikel, Ausgabe vom 29. Juni 2022. Von CHRISTIAN JENTSCH. “Neue alte Weltordnung und blinde Flecken”.

Innsbruck (OTS) – Der Westen zelebriert auf dem Gipfelmarathon – vom EU-Gipfel über das G7-Treffen bis hin zum NATO-Gipfel – seine Geschlossenheit, vor allem gegenüber Kremlchef Putin. Doch das Lobeslied auf Rechtsstaat und Demokratie hat Grenzen.

Der G7-Gipfel, das Treffen der Staats- und Regierungschefs der führenden westlichen Industrienationen, ist geschlagen. Deutschland, das die Präsidentschaft der Gruppe in diesem Jahr innehat, ließ sich die Zusammenkunft der wichtigsten Staatenlenker der westlichen Welt im elitären Schloss Elmau nahe der Grenze zu Tirol rund 166 Millionen Euro kosten.
Ziel der mächtigsten Politiker der westlichen Welt war es, Einigkeit zu demonstrieren. Einigkeit vor allem in Hinblick auf die Unterstützung der angegriffenen Ukraine – von der Lieferung moderner Waffen über humanitäre Hilfe bis hin zu einem langfris­tigen internationalen Wiederaufbauplan – und Einigkeit in Hinblick auf die Eindämmung und Ausgrenzung des russischen Aggressors. So wurde ein neues Sanktionspaket gegen Moskau auf den Weg gebracht. „Wir sind uns einig: Präsident Putin darf diesen Krieg nicht gewinnen“, erklärte der deutsche Kanzler Olaf Scholz gestern zum Abschluss des Treffens. Auf der anderen Seite wurde der Ukraine schon auf dem vorangegangenen EU-Gipfel die Tür in Richtung EU geöffnet.
Die Agenda des G7-Treffens in Bayern wurde in erster Linie von den USA bestimmt. US-Präsident Joe Biden betont seit seinem Amtsantritt die Wiedergeburt eines erstarkten geeinten Westens unter Führung der USA. Bereits im Vorjahr beim G7-Gipfel in Großbritannien rief Biden in Hinblick auf den Systemkonflikt mit Russland und der aufstrebenden Weltmacht China zur Verteidigung der Demokratie auf. Mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine ist der Kalte Krieg nun endgültig zurück. Das westliche Militärbündnis NATO rüstet massiv auf und positioniert sich klar gegen Russland. Die Zeitenwende wurde ja schon ausgerufen.
In der Zusammenarbeit mit dem so genannten globalen Süden – beim G7-Gipfel waren auch die Gastländer Argentinien, Indien, Indonesien, Senegal und Südafrika eingeladen – hat der Westen freilich Erklärungs- und Handlungsbedarf. Zwar verständigte man sich mit den Ländern offiziell auf die Stärkung von Demokratie, versprach Milliarden im Kampf gegen die Hungerkrise und startete eine globale 600 Mrd. Dollar schwere Infrastruktur-Initiative, um Chinas „Seidenstraßen“-Projekt etwas entgegenzusetzen. Doch: Im Umgang mit dem Süden sind die Prinzipien der propagierten wertebasierten westlichen Außenpolitik offenbar schnell vergessen. So werden fragwürdige Verbündete, die Menschenrechte mit Füßen treten und blutige Kriege führen, nach wie vor hofiert. Die Zusammenarbeit beschränkt sich zu oft auf korrupte Eliten. Da muss der Westen endlich gegensteuern, um glaubwürdig zu werden. Sonst bleiben wieder nur hohle Phrasen.

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