Baustelle Bewertungsboard: Fragiles Fundament für spezialisierte Arzneimittel bei seltenen Erkrankungen

Therapieverzögerungen, mangelndes Fachwissen und rechtliche Unsicherheiten im Bewertungsboard drohen die Versorgung bei seltenen Erkrankungen zu erschweren.

Das neue Bewertungsboard soll einen österreichweit einheitlichen Zugang zu spezialisierten Medikamenten im Krankenhausbereich ermöglichen. Seit Monaten aber wird Kritik an dessen Ausgestaltung geübt. Sie bezieht sich vor allem auf mögliche zeitliche Verzögerungen, einen Mangel an spezifischem Fachwissen und rechtliche Unsicherheiten. Zu befürchten ist, dass dadurch die Versorgung der Patientinnen und Patienten, insbesondere jener mit seltenen Erkrankungen, verschlechtert wird. Wo genau daher Anpassungen notwendig sind, damit das Bewertungsboard positiv wirken kann, wurde beim 15. Rare Diseases Dialog der PHARMIG ACADEMY diskutiert.

„Wir begrüßen die Schaffung eines Bewertungsboards, das den Zugang zu Therapien für ganz Österreich regelt. Allerdings sind aus unserer Sicht die klinisch tätigen Expertinnen und Experten bisher nicht ausreichend berücksichtigt. Doch ihre einschlägige, indikationsspezifische medizinische Expertise ist essenziell für eine Therapieempfehlung. Das gilt besonders im Bereich der seltenen Erkrankungen. Die Einbindung dieses Fachwissens ins Entscheidungsgremium müsste daher routinemäßig und verbindlich erfolgen“, erklärt Prim. Univ. Prof. Dr. Reinhold Kerbl, Generalsekretär der Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde und Leiter der gleichnamigen Abteilung am Landeskrankenhaus Hochsteiermark in Leoben. Eine eindeutige Formulierung im Gesetzestext, die sicherstellt, dass die jeweilige medizinische Fachexpertise bei Therapieentscheidungen die notwendige Grundlage bilden muss, würde Klarheit schaffen.

„Als österreichische Allianz für seltene Erkrankungen und Dachverband von mehr als 100 Mitgliedern fordern wir seit Jahren den österreichweit einheitlichen Zugang zu innovativen Therapien. Im vorliegenden Gesetz zum Bewertungsboard fehlt aber neben der verpflichtenden Einbindung der medizinischen Expertinnen und Experten auch die der Patientinnen und Patienten für seltene Erkrankungen“, stellt Mag. Elisabeth Weigand, MBA, Geschäftsführerin von Pro Rare Austria, klar. So sei in der Ausgestaltung des Gesetzes und der Geschäftsordnung zu inkludieren, dass bei der Bewertung des Zusatznutzens innovativer Therapien in jedem Fall die medizinisch-fachliche Beurteilung durch die Mitglieder der Europäischen Referenznetzwerke für Seltene Erkrankungen erfolgen muss.

Weigand ergänzt: „Ebenso verpflichtend muss die Expertise der Patientenexperten aus dem Rare Disease-Bereich eingeholt werden. Denn niemand sonst kann fachkundig über die gelebte Erfahrung mit einer bestimmten Indikation und über den etwaigen Zusatznutzen der zu bewertenden Intervention gegenüber dem derzeit in Österreich angewandten Behandlungsstandard als Komparator berichten. Die Patientenanwaltschaft, die sehr wichtige Funktionen erfüllt, kann dies nicht leisten.“ Darüber hinaus besteht laut Weigand die Sorge, dass es zu Verzögerung im Zugang zu neuen Therapien für Betroffene kommt. Um dem entgegenzuwirken, fordert Pro Rare Austria, dass die Bewertung neuer Therapien frühzeitig eingeleitet wird, basierend auf dem Horizon Scanning. Dieser Prozess dient dazu, früh Einblicke in innovative Gesundheitstechnologien zu gewinnen.

„Gerade bei Menschen mit seltenen Erkrankungen ist Zeit ein entscheidender Faktor. Es ist wichtig, dass Entscheidungen schnell getroffen werden und dass das Verfahren keine Verzögerungen beim Erhalt von Therapien verursacht, die irreparable Schäden durch die Krankheit verhindern könnten“, stimmen Weigand und Kerbl überein.

Auch in rechtlicher Hinsicht werden Entscheidungen des Bewertungsboards nicht die erhoffte Klarheit mit sich bringen. Dazu Univ.-Prof.in Dr.in Claudia Fuchs, Professorin an der Wirtschaftsuniversität Wien: „Es ist unklar, welche Bindungswirkung den Entscheidungen des Gremiums zukommen soll. Einerseits handelt es sich um ‚Empfehlungen‘, die ‚angewendet‘ werden sollen, andererseits um Sachverständigengutachten. Zudem gibt es weder einen Anspruch auf zeitnahe Erlassung einer Empfehlung noch eine Möglichkeit, vor allem gegen negative Empfehlungen Einspruch zu erheben. Nicht zuletzt befinden sich die Vertreter mit verpflichtend pharmakologischem beziehungsweise medizinischem Hintergrund im Board in der Minderheit. Die Möglichkeit, dass sie bei Entscheidungen überstimmt werden können, legt Inkonsistenzen zum bestehenden System der Arzneimittelbeschaffung offen und bietet eine nur instabile Basis für Therapieempfehlungen, vor allem wenn es um seltene Erkrankungen geht.”

Während im Krankenhaus die medizinische Versorgung nach dem neuesten Stand der Wissenschaft erfolgen soll, orientiert sich der ambulante Bereich an den Kriterien der Notwendigkeit. Spezielle Herausforderungen in der Versorgung sieht Mag. Gunda Gittler, MBA, aHPh, Leiterin der Apotheke der Barmherzigen Brüder in Linz sowie Vizepräsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Krankenhauspharmazie, daher insbesondere auch bei Arzneimittelspezialitäten an der Nahtstelle zwischen extra- und intramuralem Bereich: „Das Bewertungsboard bedeutet eine grundsätzliche Änderung für den Medikamenteneinkauf im Krankenhausbereich, der ohnehin abgestimmt über die elf Krankenhaus- Einkaufsgenossenschaften geregelt wird. Insbesondere bei den sogenannten Schnittstellenprodukten schafft dieses neue Board jedoch noch mehr Unsicherheit, da bei nachträglichen Entscheidungen, die sich womöglich in der Finanzierung konterkarieren, keine entsprechenden Budgets eingeplant wurden. Krankenhausträger könnten aus diesen Gründen den Einsatz von solchen neuen Therapien hinauszögern, bis es eine Empfehlung aus dem Board gibt“.

Mit Blick auf die Ziele des Gremiums hält Priv.-Doz. Dr. Robert Sauermann, stellvertretender Leiter der Abteilung „Vertragspartner Medikamente“ im Dachverband der österreichischen Sozialversicherungsträger, fest: „Das Bewertungsboard soll eine wichtige Lücke in Österreich schließen, so wie es in den meisten Ländern West- und Nordeuropas schon längst Realität ist. Nicht nur betroffene Ärzte, sondern auch das Gesundheitssystem muss sich strukturiert und evidenzbasiert mit neuen Medikamenten befassen, um einen einheitlicheren und fundierten Zugang zu Therapien zu ermöglichen. Denn eine gut geregelte, nachvollziehbare Kostenübernahme ist in allen Sektoren wichtig. Jetzt kommt es auf eine gute Umsetzung an. Insbesondere eine zeitlich frühe Befassung des Boards mit neuen Medikamenten wird in der Praxis sehr wichtig sein.“

„Bewertungsboards für hochspezialisierte Arzneimittel zählen aus guten Gründen zu den internationalen Standards. Sie dienen der Transparenz und tragen letztlich zur Fairness im Gesundheitssystem bei. Der Zugang zu medizinisch innovativen Therapien muss in Österreich für alle Menschen gleich sein. Das Board wird seine Empfehlungen auf Basis wissenschaftlicher Evidenz abgeben, dies vor dem Hintergrund der zukünftig stark ansteigenden Anzahl spezialisierter Therapien. Diese Bündelung an Expertise wird Ärztinnen und Ärzte bei komplexen Fragestellungen unterstützen und die Krankenanstaltenträger in vielerlei Hinsicht entlasten“, erklärt ao. Univ. Prof. Dr. Herwig Ostermann, Geschäftsführer des nationalen Forschungs- und Planungsinstitut im Gesundheitswesen Gesundheit Österreich GmbH.

Die pharmazeutische Industrie steht einer medizinischen Bewertung von innovativen Arzneimitteln offen gegenüber. Dazu erläutert Dr. Ronald Pichler, Leiter für Public Affairs & Market Access bei PHARMIG, dem Verband der pharmazeutischen Industrie Österreichs: „Das oberste Ziel im Gesundheitswesen besteht darin, Patientinnen und Patienten die bestmögliche Versorgung zu bieten und ihnen auch zeitnah die am besten geeignete Therapie zu ermöglichen. Ein österreichweit einheitlicher Einsatz von innovativen Arzneimitteln, der auf dem jeweiligen internationalen Stand der Wissenschaft beruht, wird daher begrüßt. Damit das zukünftige Bewertungsboard aber nicht zu einem Verhinderungsboard für medizinische Innovationen wird, sind jedenfalls grundlegende Modifikationen notwendig.“ Denn auch für die pharmazeutischen Unternehmen entstehen durch dieses neue Board viele Unklarheiten hinsichtlich Planbarkeit und Haftung. Das alles hat auch Auswirkungen auf die Attraktivität Österreichs als Markt für Innovationen und damit auch für die vorgelagerte Durchführung von klinischen Prüfungen in Österreich. „Diesbezüglich gilt es, rasch die entsprechenden Anpassungen vorzunehmen“, so Pichler.

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