
„Die letzten Tage“ – Buchpräsentation im Parlament zur Aufarbeitung nationalsozialistischer Endphaseverbrechen
Lesung und Gespräch mit Autor Martin Prinz und Historikerin Claudia Kuretsidis-Haider
Unter dem Titel „Sie wissen, wovon sie schweigen“ stand am gestrigen Abend im Parlament eine Buchpräsentation, die sich mit einem besonders dunklen Kapitel der österreichischen Geschichte befasste. Schriftsteller Martin Prinz stellte im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Literatur am Ring“ seinen neuen Tatsachenroman „Die letzten Tage“ vor, in dem er die sogenannten „Endphaseverbrechen“ der letzten Kriegswochen 1945 im niederösterreichischen Höllental rekonstruiert. Anhand tausender Seiten an Gerichtsprotokollen beleuchtet er die Strafprozesse vor dem Wiener Volksgericht im Jahr 1947 gegen führende lokale NS-Funktionäre, die unter dem Deckmantel pseudo-legaler Standgerichte Todesurteile gegen vermeintliche Deserteure, Gegner und Gegnerinnen des NS-Regimes, oder einfach „Unbequeme“ und „Unzuverlässige“ verkündeten und vollstreckten.
Nach der Eröffnung der Buchpräsentation durch Parlamentsvizedirektor Alexis Wintoniak und einleitenden Worten von Holger Böck, Leiter der Abteilung Bibliothek & Archiv der Parlamentsdirektion, folgte ein Gespräch mit Prinz und der stellvertretenden wissenschaftlichen Leiterin des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (DÖW), Claudia Kuretsidis-Haider. Impulse für das Gespräch boten von Prinz vorgelesene Passagen, in denen er die Monotonie des Verdrängens und die beklemmende Nähe von Alltäglichkeit und Grauen eindringlich erfahrbar machte.
PRINZ ÜBER DIE GENESE SEINES BUCHES UND DIE GLEICHZEITIGKEIT VON SCHRECKEN UND ALLTAG
Der Autor erläuterte im Gespräch „die lange Geschichte des Buches“, das auf einer juristischen Aufarbeitung der fünfeinhalb Wochen andauernden Geschehnisse im Höllental auf Wunsch der Gemeinde Reichenau basiere. Das Konvolut sei 14 Jahre lang „in einer Schreibtischschublade gelegen“, bis ein Gemeindebediensteter es 2014 an Prinz herangetragen habe, mit dem Vorschlag, „etwas daraus zu machen“. Prinz sei jedoch klar gewesen, dass daraus zumindest nichts fiktionales „zu machen“ sei, da er sich die Emotionen jener Zeit nur hätte „anmaßen“ können. Erst 2023 sei er auf die Lösung gekommen, sich an die tausenden Seiten an diesbezüglichen Gerichtsakten im Wiener Stadt- und Landesarchiv heranzuwagen. Prinz berichtete, wie die Täter darin in einer „furchtbar unpersönlichen und passiven Weise“ über ihre Taten gesprochen, Befehlsnotstände konstruiert und Schuld von sich gewiesen hätten – der Autor erkannte darin die „Sprache Adolf Eichmanns“ wieder.
Prinz berichtete von mehreren Fällen der Denunziation, Verschleppungen, Folter und Mord in den Tagen zwischen Mitte April und Anfang Mai 1945 in den niederösterreichischen Gemeinden Reichenau, Prein und Schwarzau. Er sprach von einem „Labor der Schrecklichkeit und gleichzeitig des Alltags“, in dem sich die Täter ermächtigt sahen, über Leben und Tod zu entscheiden.
KURETSIDIS-HAIDER ERLÄUTERT DYNAMIK DER ENDPHASEVERBRECHEN
Die von Prinz angesprochene „Ermächtigungsgesellschaft“ der letzten Kriegswochen konkretisierte Claudia Kuretsidis-Haider an dem Fall des NS-Kreisleiters von Neunkirchen, Johann Braun. Am 15. Februar 1945 habe Reichsjustizminister Otto Georg Thierack die bis dahin auf das Militär beschränkten Befugnisse der Standgerichte auf Zivilisten und Zivilistinnen ausweiten lassen. Diese Standgerichte seien eigentlich mit Juristen zu besetzen gewesen, die Braun in den letzten Kriegstagen jedoch nicht mehr zur Verfügung gehabt hätte. Doch anstatt die Einrichtung eines Standgerichts aus diesem Grund zu unterlassen und damit weitere Hinrichtungen zu vermeiden, habe sich der Bäckergeselle Braun kurzerhand selbst zum Vorsitzenden des Standgerichts ermächtigt und weitere Todesurteile vollstreckt, wie Kuretsidis-Haider berichtete. Da dies auch nach NS-Recht illegal gewesen sei, sei Braun selbst 1947 vom Volksgericht in Wien zum Tode verurteilt worden.
Kuretsidis-Haider beleuchtete auch die Hintergründe dieser Verbrechen: Im Zuge des Vorrückens der Roten Armee seien „Inseln“ nationalsozialistischer Herrschaft entstanden, wo Menschen wie Braun einen „Furor der Gewalt“ entfesseln hätten können, der später nüchtern als „Endphasenverbrechen“ bezeichnet worden sei. Diese habe die wiedererrichtete österreichische Justiz aufarbeiten können, da viele Zeugen vor Ort vorhanden gewesen seien, erklärte Kuretsidis-Haider. Bei den Verbrechen, die in Konzentrations- und Vernichtungslagern begangen wurden, habe sich das weit schwieriger gestaltet. (Schluss) wit
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