Leitartikel “EU-Erweiterung: Ja, aber nur mit Reformen” vom 26. November 2021 von Christian Jentsch

Innsbruck (OTS) – Die Staaten des Westbalkan sitzen im Wartesaal der EU fest. Österreich fordert ein Ende des Zögerns und mehr Tempo beim Beitrittsprozess. Doch die EU hat längst eine kritische Größe erreicht. EU-Schwergewichte wie Frankreich bremsen.

Von Christian Jentsch
Österreichs Politiker geben sich am Westbalkan die Klinke in die Hand. Vergangene Woche besuchte Außenminister Michael Linhart (ÖVP) Nordmazedonien und Albanien, seine erste diplomatische Mission als neuer Außenminister führte ihn Mitte Oktober nach Sarajevo, in die Hauptstadt von Bosnien-Herzegowina. Sowohl in Sarajevo als auch in Skopje und Tirana erklärte er wie sein Vorgänger und jetziger Kanzler Alexander­ Schallenberg das Engagement Österreichs für den Beitritt der Westbalkanstaaten zur EU zum Mantra der österreichischen Außenpolitik. Linhart sprach davon, dass Europa ohne den Westbalkan nicht komplett sei. Und Österreich, das in der Region zu den wichtigsten Investoren zählt, mahnt zur Eile: Die rasche Erweiterung der Union um die sechs Länder des Westbalkans – Serbien, Montenegro, Nordmazedonien, Bosnien-Herzegowina, Albanien und der Kosovo – sei im strategischen Interesse der EU und könne nicht ewig auf die lange Bank geschoben werden. Derzeit sitzt der Westbalkan im Warteraum der EU fest. Die Beitrittsverhandlungen mit Serbien und Montenegro sind ins Stocken geraten, Nordmazedonien und Albanien sind zwar Beitrittskandidaten, der Start der Beitrittsverhandlungen wurde aber immer wieder hinausgezögert. Und für Bosnien-Herzegowina und den Kosovo ist die EU ohnehin in weiter Ferne. Der Westbalkan droht Europa angesichts des fehlenden Engagements der EU zu entgleiten, heißt es nicht nur aus Öster­reich. Schließlich haben auch Russland, China oder die Türkei Lunte gerochen und wollen den Westbalkan enger an sich binden. Der EU droht im Südosten Europas eine offene Flanke. Und: Ohne konkrete Beitrittsperspektive drohen dem Balkan neue Konflikte. So erklärte die albanische Außenministerin Olta Xhacka beim Treffen mit Linhart in Tirana, dass ohne europäische Perspektive die Stabilität am Westbalkan in Gefahr sei. Und das in einer Zeit, in der die Geister aus der Vergangenheit zurückzukehren drohen. So zündelt der Chef der bosnischen Serben, Milorad Dodik, nach Kräften und droht mit der Abspaltung des serbischen Landesteils von Bosnien-Herzegowina. Die Lunte am Balkan brennt wieder. Und trotz all der Argumente für einen EU-Beitritt der Westbalkan-Staaten haben sich EU-Schwergewichte wie Frankreich und die Niederlande lange gegen eine neuerliche EU-Erweiterung gesperrt und sind weiter skeptisch. Auch sie haben gute Argumente. Eine noch größere EU würde wohl endgültig zum lahmen Tanker werden, der keine Entscheidungen mehr treffen kann. Bereits jetzt droht der Konflikt mit Polen und Ungarn die EU zu zerreißen. Bevor die EU neue Länder aufnehmen kann, muss sie sich reformieren – und sich in wichtigen Bereichen von der Einstimmigkeit verabschieden.

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