TIROLER TAGESZEITUNG, Leitartikel: “Klare Kante nach dem langen Schweigen”, von Michael Sprenger

Ausgabe vom Donnerstag, 21. Juli 2022

Innsbruck (OTS) – Alexander Van der Bellen reagiert auf das Misstrauen gegen die Regierung – und findet klare Worte. Doch hätte er dies nicht früher tun müssen? Jetzt hört man den Wahlkämpfer. Als Bundespräsident hätte er mehr Mut zeigen können.

Seit Wochen leidet die Bevölkerung unter der Teuerungswelle und der ungesicherten Energieversorgung. Zudem reiht sich ein Korruptionsvorwurf an den nächsten. Bei der Pandemie ist immer noch kein Ende in Sicht. Die Bundesregierung von ÖVP und Grünen laviert zu all diesen Themenkomplexen bloß herum, verfolgt keine nachvollziehbare Linie. Bundeskanzler Karl Nehammer flüchtet sich in unpassende Vergleiche und muss dabei zur Kenntnis nehmen, dass selbst Parteifreunde von ihm abrücken. Die Folgen sind bekannt. Noch nie hatte in Österreich eine amtierende Regierung so eine geringe Zustimmung. Das Vertrauen in die Lösungskompetenz der Politik hat einen historischen Tiefststand erreicht.
Doch zu alledem gab sich der Bundespräsident in den vergangenen Wochen wortkarg. Zu lange!
Jetzt ändert er seinen Kurs. Egal ob in Interviews oder in seinen Eröffnungsreden, wie zuletzt bei den Festspielen in Erl und Bregenz, zeigt Alexander Van der Bellen klar Kante. Er bezieht Position, übt Kritik an der Regierung, fordert von ihr „verständliche und transparente Kommunikation“ ein.
Das alles war und ist notwendig. Viele Bürgerinnen und Bürger fühlen sich mit ihren Ängsten alleingelassen. Das Staats­oberhaupt reagierte also adäquat.
Muss man ihn dafür loben? Nein! Er sagte, was man von einem Bundespräsidenten erwartet. Trotzdem bleibt ein fahler Nachgeschmack.

Denn vieles deutet darauf hin, dass hier mehr der wahlkämpfende Alexander Van der Bellen gesprochen hat, weniger das Staatsoberhaupt. Es stimmt, Van der Bellen muss hier einen Spagat schaffen – zwischen Wahlkampf und Würde des Amtes. Dass er sich bei seinem Werben für eine zweite Amtszeit weigert, mit seinen möglichen Kontrahenten in eine TV-Konfrontation zu gehen, ist nachvollziehbar. Die Gefahr, die Institution des Amtes des Bundespräsidenten nachhaltig zu beschädigen, ist zu groß, wenn man sich die bisherige Liste von möglichen Gegenkandidaten vor Augen hält. Doch auf der anderen Seite ist es feig, zu den Fehlleistungen der Regierung oder ihrer einzelnen Regierungsmitglieder zu schweigen. Er schwieg zu lange zu den ÖVP-Korruptionsvorwürfen, er schwieg zu lange zu den aktuellen Themenkomplexen. So als hätte er Angst davor gehabt, mit Blick auf die Wiederwahl die ÖVP zu verärgern. Da hätte Van der Bellen durchaus mehr Selbstbewusstsein an den Tag legen können. In einer zweiten Amtszeit sollte er dies jedenfalls korrigieren. Im Namen der Republik.

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