Tiroler Tageszeitung, Leitartikel, Ausgabe vom 1. August 2022. Von Gabriele Starck. “Schnelle Lösung mit hohem Risiko”.

Innsbruck (OTS) – Nur fünf Monate vor der Abschaltung der letzten drei AKW in Deutschland wittern Europas Atomkraftbefürworter dank Gas-Krise Morgenluft. Einer davon ist CSU-Chef Markus Söder, allerdings überspannt er den Bogen.

Es klingt einfach: Atom statt Gas, Energieunabhängigkeit statt russischer Erpressung. Doch was einfach klingt, ist es selten. Der für Jahresende geplante deutsche Ausstieg aus der Kernkraft ist zum europäischen Politikum geworden und rüttelt innerdeutsch an grünen Grundfesten. Doch es geht um mehr als nur Befindlichkeiten und vermeintlich schnelle Lösungen.
EU-Staaten, die nicht im selben Ausmaß wie Deutschland und Österreich abhängig von russischem Gas sind, zeigen sich wenig begeistert davon, den eigenen Energieverbrauch aus Solidarität um 15 Prozent zu drosseln und im Notfall sogar mit eigenen Gasvorräten auszuhelfen. Das ist Wasser auf die Mühlen von Demagogen wie Ministerpräsident Viktor Orbán, der den UngarInnen sogleich sein Feindbild Nummer 1, die EU-Kommission, als Verantwortliche für einen drohenden Gas-Diebstahl servierte. Aber der Notfallplan ist keine Einbahnstraße. Europas Staaten sind wirtschaftlich und energietechnisch so eng miteinander verwoben, dass der Notstand in einem Land die anderen mitreißen würde.
Vehemente Kernkraft-Befürworter wie Frankreich oder die Slowakei sehen sich wiederum bestätigt darin, dass ein Atomausstieg Unsinn sei und nur Probleme schaffe. Dementsprechend pochen sie darauf, dass die AKW in Deutschland am Netz bleiben und die Gasverstromung eingestellt wird. Allerdings würde das den Gasmangel nicht wettmachen. Auch ist das große Loblied auf die Atomkraft als Lösung Unsinn. Frankreich muss derzeit massiv Strom importieren, weil mehr als die Hälfte seiner 56 Meiler außer Betrieb sind – aufgrund aufwändiger Instandhaltungsarbeiten, wegen Mängeln oder weil die Kühlung mit Flusswasser wegen der Hitzewelle nicht möglich ist. Nicht nur das enorme Sicherheitsrisiko – Fukushima und Tschernobyl scheinen vergessen – und die ungeklärte Endlagerung der radioaktiven Abfälle stellen also die Atomkraft in Frage, sondern inzwischen auch die Klimaerwärmung.
Doch das beste Argument gegen Atomkraft liefert ausgerechnet Bayerns Ministerpräsident Markus Söder, weil er sich massiv für diese einsetzt. Der CSU-Chef lässt sich zwar gern beim Umarmen von Bäumen fotografieren, doch ganz Deutschland weiß, dass seine Partei die regenerative Energienutzung ausbremst, indem sie etwa den Ausbau von Stromtrassen für Windenergie verhindert. Und Söder erdreistet sich zudem, dem Norden das überaus umweltschädliche Fracking, die Gasgewinnung aus Gestein, ans Herz zu legen. Damit offenbart er, dass die Gas-Krise den Atomkraftbefürwortern auch als Vorwand dient, in alten Fahrwassern zu bleiben, statt in eine nachhaltige und lebenswerte Zukunft zu investieren.

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