Pädagogikpaket: ExpertInnen sehen Licht und Schatten

ÖVP und FPÖ beschließen Schulrechtsnovelle trotz Widerstands der Opposition

Wien (PK) – Fortschritt oder Rückschritt, zwischen diesen Gegenpolen
schwankten heute im Unterrichtsausschuss des Nationalrats die
Beurteilungen des Pädagogikpakets, das das Bildungsministerium
(BMBWF) zur leistungsorientierten Weiterentwicklung der
Pflichtschulen vorgeschlagen hat. Ob Änderungen wie die
verpflichtende Benotung ab Ende der zweiten Schulstufe sich positiv
oder negativ auf die schulische Entwicklung der Kinder auswirken
werden, darüber waren nicht nur Regierungsfraktionen und Opposition
uneines. Auch die Meinungen der ExpertInnen, die der Ausschuss zum
Hearing über den Gesetzesvorschlag geladen hatten, lagen teilweise
weit auseinander. So warb Schulpädagogikexperte Erwin Rauscher für
die Notengebung als Mittel zur Klarheit über Stärken und Schwächen
von SchülerInnen, und auch Schulinspektorin Helga Reiter sowie
Sektionschef Klemens Riegler-Picker lobten die Gesetzesvorlage.
Erziehungswissenschafter Ferdinand Eder hingegen warnte, schlechte
Noten für Zweitklässler wirkten demotivierend und stigmatisierend,
wobei er mit Schuldirektor Josef Reichmayr und Gabriel Bremer, selbst
Schüler, auf einer Linie lag.

Bildungspolitisch bewege man sich mit dem Pädagogikpaket in die
falsche Richtung, da Ungerechtigkeiten verstärkt würden, meinten auch
SPÖ, NEOS und JETZT. ÖVP und FPÖ widersprachen: Für die gezielte
Förderung der SchülerInnen schaffe die Novelle den richtigen Rahmen.
Im Anschluss an die Expertenkonsultation nahm die Ausschussmehrheit
von ÖVP und FPÖ den Gesetzesvorschlag an. Bildungsminister Heinz
Faßmann betonte, der Entwicklung des Vorschlags sei eine breite
Diskussion mit sämtlichen Bildungsdirektionen, mit LehrerInnen,
Eltern, SchülervertreterInnen und dem Qualitätssicherungsrat
vorangegangen. Konkret zur Benotungsfrage sagte er, die Ziffernnoten
gingen einher mit verbalen Beurteilungen. Der Dialog zwischen
LehrerInnen, Eltern und Kindern werde dadurch unterstützt.

Die als Pädagogikpaket 2018 beschlagwortete Schulrechts-Sammelnovelle
soll laut Gesetzesentwurf ( 373 d.B .) zu mehr Transparenz und
Objektivität bei der Leistungsbeurteilung in Volksschulen und
Mittelschulen führen. Dementsprechend plant die Regierung wieder
Ziffernnoten ab dem zweiten Semester der 2. Volksschulklasse, wobei
negative Jahreszeugnisnoten bereits dann zum Wiederholen der Klasse
führen können. Neben einer besseren Vergleichbarkeit der Beurteilung
will man sicherstellen, dass Förderbedarf bei SchülerInnen frühzeitig
entdeckt und mit obligatorischem Förderunterricht behoben wird. An
den Mittelschulen, wie die Neuen Mittelschulen künftig heißen sollen,
will Minister Faßmann die Notenzahl von 7 auf 5 reduzieren, die
Differenzierung in „Standard“ und „Standard AHS“ ab der zweiten
Klasse einführen, und zusätzlich eine dauerhafte Gruppenbildung der
SchülerInnen anhand ihrer Leistungsniveaus in den Pflichtfächern
ermöglichen. Überdies sieht der Entwurf mit Verweis auf die
Ausbildungspflicht bis 18 ein freiwilliges 10. Schuljahr an
Polytechnischen Schulen vor.

Faßmann: Objektive Bewertung als Grundlage für Förderung

Die laut Novellenentwurf verpflichtenden
Kinder-Eltern-Lehrer-Gespräche an den Volksschulen rückte Minister
Faßmann in den Mittelpunkt seiner Ausführung zur geplanten
Leistungsbewertung. Die Ziffernnoten dienten dabei als objektiv
nachvollziehbare Grundlage, den Lernprozess der Schülerin oder des
Schülers und etwaige Fördermaßnahmen zu besprechen. Genauso werde die
Möglichkeit zur dauerhaften Gruppierung von SchülerInnen der
Mittelschulen deren gezielte Förderung unterstützen, ist Faßmann
überzeugt. Zudem stärke diese am Schulstandort festzulegende
Differenzierungsform die Schulautonomie. Für das freiwillige 10.
Schuljahr an Polytechnischen Schulen für SchulabgängerInnen, die ohne
positives Zeugnis die 9. Schulstufe beendet haben, sicherte der
Bildungsminister die budgetäre Abdeckung zu.

Düsterer Ausblick von Reichmayr, Eder, Bremer

Für Schuldirektor Josef Reichmayr, der die ganztägige Volks- und
Mittelschule „Lernwerkstatt“ im 20. Wiener Gemeindebezirk leitet,
droht mit dem Pädagogikpaket eine „Entmündigung der Betroffenen“. Von
PädagogInnen im Schulalltag erarbeitete Modelle wie mehrstufige
Lerngruppen und alternative Beurteilungsformen würden extrem
zurückgefahren, obwohl Standorte wie die Lernwerkstatt schon seit 20
Jahren erfolgreich damit arbeiteten. Dringend empfahl Reichmayr, nach
eigenen Worten „kein Freund der Noten“, die alternative Beurteilung
basierend auf pädagogisch entwickelten Rastern zumindest bis zur 3.
Schulstufe zuzulassen. In Hinblick auf die künftige Differenzierung
an Mittelschulen ab der 6. Schulstufe titelte er den
Novellenvorschlag in „Etikettierungspaket“ um, das aufgrund der
gesetzgeberischen Vorschriften einer echten Autonomie der Schulen
entgegenstehe. Insgesamt meinte der Direktor, den Schulen werde eine
Schulreform aufgedrängt, obwohl die Mehrheit der Pflichtschulen auf
bestehende alternative Lehr- und Beurteilungsmethoden setze.

Ferdinand Eder, Universitätsprofessor für Lehramtsausbildung, fällte
ein harsches Urteil über das Gesetzesvorhaben. Das Pädagogikpaket
werde dem Ansatz, das Lernen zu unterstützen, gerade mit der frühen
Benotung von Volksschulkindern nicht gerecht. „Die lernförderliche
Wirkung von Noten ist relativ gering“, richtete der
Erziehungswissenschafter und Repräsentant der Österreichischen
Gesellschaft für Forschung und Entwicklung im Bildungswesen den
Regierungsfraktionen aus. Ziffernnoten hätten weder in Bezug auf die
tatsächliche Leistung noch auf das Leistungspotential hinlänglich
Aussagekraft. Aufs Schärfste verurteilte Eder die Möglichkeit des
„Sitzenbleibens“ für Achtjährige: dies führe zu einer Stigmatisierung
und Traumatisierung der SchülerInnen, die sich negativ auf die
gesamte Bildungskarriere der Betroffenen auswirkten. Die Einteilung
der MittelschülerInnen nach Leistungsniveaus erhöhe die
Bildungsungleichheit weiter, hätten doch Jugendliche aus
bildungsfernen Haushalten wenig Aussicht auf eine Aufstufung.

Als Vertreter von YEP, dem Verein für Mitbestimmung,
gesellschaftliche Partizipation und Empowerment von Jugendlichen,
hielt Gabriel Bremer eine Grundsatzrede zur Neuausrichtung des
Schulsystems. „Kinder sind mehr als bloße Ziffern!“ forderte er einen
Ausbau der alternativen Leistungsbeurteilung und eine
Leistungsdifferenzierung an Mittelschulen, die Jugendliche nicht aus
ihrem Klassenverband drängt. Die Einteilung von MittelschülerInnen in
die Leistungsniveaus „Standard“ und „Standard AHS“ erfolge in den
ersten zwei Wochen der 6. Schulstufe viel zu früh, bei einer
bundesweiten Schülerbefragung hätten sich 80% dagegen ausgesprochen.
Überdies brauche es mehr Investitionen in die Bildung bzw. in
schulisches Supportpersonal, so der 19-jährige Handelsakademieschüler
und er erinnerte, „die Jugend macht 20 Prozent der Bevölkerung aus,
aber 100 Prozent der Zukunft“. Vor diesem Hintergrund täte die
Politik gut daran, Gesetze für SchülerInnen gemeinsam mit den
Jugendlichen zu erarbeiten.

Sonnige Prognose von Rauscher, Reiter und Riegler-Picker

Eine „Chance für neue Schulentwicklung durch mehr Schulautonomie“
erwartet Erwin Rauscher, Rektor der Pädagogischen Hochschulen
Niederösterreich, vom anvisierten Pädagogikpaket. Die Mittelschulen
erhielten mehr Wertschätzung, indem die autonomen
Differenzierungsmöglichkeiten der Individualität jedes Schülers und
jeder Schülerin Rechnung tragen. Speziell zur Notengebung an
Volksschulen hielt er den KritikerInnen entgegen, fraglos sei
„Motivieren mit Noten“ verbreitete Praxis im Schulsystem.
Ziffernnoten bilanzierten die Leistungen leicht verständlich, wodurch
dem Unterricht im Sinne der Schulkultur mehr Spielraum eröffnet
werde. Die Novelle konnotiere Leistung positiv, appellierte er, das
Gesetzesvorhaben ohne ideologische Schranken zu beurteilen. „Ohne
Leistungsbeurteilung gibt es keine Bildungsgerechtigkeit“.

„Praxisorientiert“ bewertete Pflichtschulinspektorin Helga Reiter den
Vorschlag zum Pädagogipaket, dem sie ein durchwegs gutes Zeugnis
ausstellte. „Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, das muss im
Schulwesen wiedergespiegelt werden“, lobte sie die Abkehr von der
alternativen Leistungsbeurteilung, die ihr zufolge in zahlreichen
Schulversuchern gescheitert ist. Die verbale Benotung sei dabei zu
„Notenattrappen“ verkommen, mit denen Kinder und Eltern nichts hätten
anfangen können und die die LehrerInnen überforderten. Nicht zuletzt
die Wirtschaft sei auf klare Leistungsbewertungen angewiesen, wofür
nun schon an den Volksschulen anhand standardisierter
Beurteilungsraster für Ziffernnoten die Grundlage gelegt werde. Laut
Reiter hat sich folglich die große Mehrheit der Schulen für die
Wiedereinführung der Noten ab dem 2. Schuljahr ausgesprochen, ebenso
werde von den PraktikerInnen die standortautonome Möglichkeit der
dauerhaften Leistungsgruppenbildung an den Mittelschulen begrüßt.

Den Erwerb der Grundkompetenzen an Volksschulen habe man mit dem
Pädagogikpaket im Fokus, erklärte Klemens Riegler-Picker,
Sektionschef im Bildungsministerium. Die kompetenzorientierte
Benotung kombiniert mit verbalen Beschreibungen mache Sinn, verwies
der Ministerialbeamte auf Empfehlungen der Organisation für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD, quantitative
Noten mit qualitativen Bewertungen zu verbinden. Die mehrfach
kritisierte Klassenwiederholung ab der zweiten Schulstufe werde
bildungswissenschaftlich durchaus auch förderlich für den Bildungsweg
gesehen, zumal das „Sitzenbleiben“ in der zweiten Volksschulklasse
jedenfalls nur als pädagogisch letztes Mittel gedacht sei.
Riegler-Picker sieht damit die Gefahr gebannt, dass schlechte
SchülerInnen ohne Leistungsverbesserung in die Mittelschule gelangen.

Leistungsbeurteilung: Regierung für Noten, Opposition für
Alternativen

Sämtliche Fraktionen im Ausschuss wollen ein Bildungssystem, das
Kinder und Jugendliche bestmöglich auf das weitere Leben vorbereitet,
wie Stephanie Cox (JETZT) es auf den Punkt brachte: „Die Schule soll
der Nährboden für ein selbstbestimmtes Leben sein“. Über die
Ausgestaltung des Schulwesens weichen die Zugänge jedoch stark
voneinander ab, wie sich heute bei der Diskussion über das
Pädagogikpaket neuerlich zeigte. Während Rudolf Taschner unterstrich,
„wir brauchen anspruchsvolle Schulen“, und diese Intention in der
Benotung ab der Volksschule umgesetzt sieht, warf Sonja Hammerschmid
(SPÖ) der Regierung vor, „soziale Trennwände“ im Bildungsbereich
wieder zu errichten. Schulischer Erfolg entstehe nur in einer
positiven, ansprechenden Schulkultur, wies die ehemalige
Bildungsministerin auf über 2000 Schulversuche hin, die alternative
Leistungsbeurteilungen treffsicher und an pädagogischen Kompetenzen
orientiert umgesetzt hätten. Benotung ab der zweiten Schulstufe
erhöhe dagegen den Leistungsdruck bei allen Beteiligten, gab
Hammerschmids Parteikollegin Katharina Kucharowits zu bedenken.

Für die FPÖ ist das Pädagogikpaket eine Notwendigkeit, dem
Leistungsverfall unter SchülerInnen beizukommen. Die Ergebnisse der
internationalen Schulleistungsuntersuchung PISA würden belegen, dass
angesichts des schlechten Abschneidens heimischer SchülerInnen bei
den Grundfertigkeiten sinnerfassendes Lesen, Rechnen und Schreiben
eine Schulreform dringend erforderlich ist, sind die Freiheitlichen
Gerald Hauser und Wendelin Mölzer einig. Die Schulrechtsnovelle werde
dank stärkerer Leistungsförderung und Differenzierung für eine
sinnvolle Weiterentwicklung der Pflichtschulen sorgen, ist Gertraud
Salzmann (ÖVP) zuversichtlich.

Douglas Hoyos-Trauttmansdorff (NEOS) bestätigte zwar, Änderungen am
Schulsystem seien hoch an der Zeit, doch sprach er sich für Arbeiten
am „Gesamtsystem“ aus. Das Pädagogikpaket liefert seiner Meinung nach
Rückschritte in mehreren Bereichen, es trage nicht zu einem
zukunftsorientierten Bildungssystem bei, zumal viele Maßnahmen ohne
Evidenz und nur aus parteipolitischen Gründen gesetzt worden seien.
Genauso wie Cox plädierte der NEOS-Sprecher dafür, die Neugier im
Schulunterricht stärker zu fördern. „Neugier ist das, was Menschen
antreibt“. (Schluss Unterrichtsausschuss). rei

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