SOS Mitmensch: Relevant fürs System, uninteressant für die Politik!

Viele Systemerhalter*innen bei Wien-Wahl vom Wahlrecht ausgeschlossen

Wien (OTS) – Knapp ein Drittel der Wienerinnen und Wiener, darunter viele Systemerhalter*innen, dürfen bei der Landtags- und Gemeinderatswahl am 11. Oktober nicht wählen. Betroffene zeigen sich vom fehlenden Wahlrecht bitter enttäuscht. Auch Expert*innen üben Kritik daran, dass Personen, die beruflich oft eine hohe Last und ein hohes Risiko tragen, in unserer Demokratie nicht mit abgebildet sind. Mit der Pass Egal Wahl setzt SOS Mitmensch ein Zeichen gegen diesen Demokratieausschluss.

Systemerhalter*innen beklatscht, aber stimmlos:

„Frauen und Männer in systemerhaltenden Berufen wurden zu Beginn der COVID-19-Pandemie von allen Seiten beklatscht, weil sie mehr denn je wichtige Dienste leisten und oftmals ihre eigene Gesundheit riskieren. Umso ungerechter ist es, dass viele von ihnen kein Wahlrecht haben. Ihre Interessen und Bedürfnisse sind dadurch politisch nicht repräsentiert“, konstatiert SOS Mitmensch-Geschäftsführerin Gerlinde Affenzeller. Diese Ungerechtigkeit basiere darauf, dass viele der Systemerhalter*innen keine österreichische Staatsbürgerschaft haben und daher nicht zur Wahl gehen dürfen, so Affenzeller. Als Hauptgründe für den Nichterwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft identifiziert Affenzeller hohe finanzielle und bürokratische Hürden, lange Wartezeiten sowie die weitgehende Blockade von Doppelstaatsbürgerschaften. Insgesamt sind knapp 500.000 Menschen in Wien aufgrund ihrer Staatsbürgerschaft nicht wahlberechtigt. Menschen in systemrelevanten Berufen sind darin überproportional häufig vertreten.

Kohlenberger: Wer das System trägt, muss in der Demokratie abgebildet sein.

Die Migrationsforscherin Judith Kohlenberger kritisiert das integrations- und demokratiepolitische Missverhältnis von dem insbesondere Systemerhalter*innen betroffen sind. „Viele dieser Beschäftigten waren während des Lockdowns und auch jetzt, wo die Infektionszahlen wieder steigen, tagtäglich einer höheren Last und einem höheren Risiko ausgesetzt. Sie leisten einen wertvollen Dienst an der Republik, an der sie aber weiterhin nicht vollwertig teilnehmen dürfen“, sagt Kohlenberger. Die Migrationsforscherin betont, dass das von Integrationsministerin Raab zuletzt geforderte „emotionale Ankommen“ in Österreich nur dann funktioniere, wenn echte Beteiligung möglich ist. „Wer das System trägt, muss in einer demokratischen Republik auch darin abgebildet sein“, fordert Kohlenberger.

Golnar Shahyar: Wach auf Österreich!

Die Musikerin Golnar Shahyar lebt seit 12 Jahren mit iranischem und kanadischem Pass in Österreich und ist selbst betroffen vom Wahlausschuss. Sie hat Systemerhalter*innen im Freundeskreis und sieht nicht nur die eigenen Nachteile, nicht wählen zu dürfen, sondern auch ein Problem für Österreich. „Wie viele Jahre sollte man hier leben, um endlich dazuzugehören? Wieviel Geld sollte man bezahlen? Wieviel Schweiß und Tränen sollte man vergießen? Wie sehr sollte man sich assimilieren?“, fragt Shahyar und übt scharfe Kritik an einer Politik, die von Integration spricht, aber sich weigert, den Menschen „den Respekt und die Würde zu geben, die jeder verdient“. „Die Politik spricht von österreichischem Wohlstand, als ob sie ihn besitzt, also ob die Menschen, die zwei Euro die Stunde verdienen, nichts damit zu tun hätten. Als ob unser Wohlstand nicht mit dem zu tun hätte, was außerhalb der österreichischen Grenzen stattfindet. Österreich vergisst die Geschichte und will alle Lorbeeren für sich einheimsen. Wach auf Österreich!“, so der Mahnruf der Musikerin.

Rainer Bauböck: Der Zugang zum Wahlrecht für Einwanderer ist
nicht nur in deren Interesse.

Auch der Demokratieforscher Rainer Bauböck sieht die negativen Konsequenzen des Wahlausschlusses nicht nur bei den betroffenen Nichtstaatsbürger*innen. „Der Zugang zum Wahlrecht für Einwanderer ist nicht nur in deren Interesse, sondern notwendig, damit unsere Demokratie wieder die Bevölkerung des Landes repräsentiert“, betont Bauböck. Der Demokratieforscher weist darauf hin, dass Österreich seit der Gastarbeiterrekrutierung Zuwandererinnen und Zuwanderer nicht als künftige Bürger*innen des Landes gesehen habe. Und auch jetzt gelte nach wie vor: „Für die zweite und dritte Generation gibt es noch immer keinen Anspruch auf Staatsbürgerschaft bei Geburt im Inland.“ Problematisch sei darüber hinaus, dass die politischen Parteien nicht um die Stimmen dieser Menschen werben müssten und daher auch keinen Anreiz hätten, ihre Interessen zu vertreten, erklärt Bauböck.

Gerlinde Affenzeller: Interessieren Sie sich für die
eineinhalb Millionen Menschen ohne österreichischen Pass!

Konkrete Vorschläge an die Politik richtet die Geschäftsführerin von SOS Mitmensch, Gerlinde Affenzeller. „Wer in Wien lebt, soll in Wien mitbestimmen dürfen. Die politischen Repräsentant*innen sollen ihren Machtanspruch durch die Vertretung der gesamten Bevölkerung, über die sie ihre Macht ausüben, legitimieren. Dazu ist es in einer von Migration geprägten Gesellschaft nötig, dass alle, die längerfristig in Österreich bzw. in Wien ihren Lebensmittelpunkt haben, an Wahlen teilnehmen dürfen“, erklärt Affenzeller. Dann betont sie: „Schon gar nicht darf, so wie es jetzt aufgrund der restriktiven Einbürgerungsbestimmungen der Fall ist, ein zu niedriges Einkommen zum Ausschluss von der Demokratie führen.“ Und an die österreichische Politik gerichtet: „Interessieren Sie sich für die Menschen, die in Pflegeberufen tätig sind, Kinder betreuen und an der Supermarkt-Kassa stehen, interessieren Sie sich für die hier lebenden eineinhalb Millionen Menschen ohne österreichischen Pass!“

Pass Egal Wahl als Ergänzung zu einer unvollständigen
Wien-Wahl:

SOS Mitmensch kritisiert die Wien-Wahl als „unvollständige Wahl“ und führt zum wiederholten Mal die „Pass Egal Wahl“ durch. Damit soll auch Wienerinnen und Wienern ohne österreichischen Pass Partizipation ermöglicht werden, „denn Demokratie lebt von Beteiligung, nicht von Ausschluss“, so Affenzeller abschließend. SOS Mitmensch bietet noch bis 6. Oktober Menschen ohne österreichische Staatsbürgerschaft die Gelegenheit, an der „Pass Egal Wahl“ teilzunehmen – aufgrund von Covid-19 per Briefwahl. Das Wahlergebnis werde noch am 6. Oktober bekannt gegeben, kündigt SOS Mitmensch an.

SOS Mitmensch, Zollergasse 15/2, 1070 Wien
Magdalena Stern
0664 142 53 08
magdalena.stern@sosmitmensch.at
www.sosmitmensch.at

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