Nationalrat beschließt Sozialversicherungsreform

Regierungsfraktionen loben Jahrhundertprojekt, Opposition ortet „Drei-Klassen-Medizin“

Wien (PK) – Bei den Sozialversicherungen (SV) wird sich einiges
ändern. Mit ÖVP-FPÖ-Mehrheit beschloss der Nationalrat heute die im
Vorfeld breit diskutierte Reform der Sozialversicherungsträger.
Sozialministerin Beate Hartinger-Klein würdigte die Entscheidung mit
den Worten „Wir schreiben Geschichte“. Die Regierung zeige den Mut zu
einer Reform, „die seit Jahrzehnten notwendig war“. Eindeutige
Gewinner der Sozialversicherungsreform seien die Versicherten. Die
Koalitionsparteien ÖVP und FPÖ pflichteten ihr bei, die Vorteile der
verschlankten Sozialversicherungsstruktur würden für die PatientInnen
durch eine bessere ärztliche Versorgung und mehr
Leistungsgerechtigkeit spürbar. „Daher gibt es große Zustimmung für
die Reform“, befand Dagmar Belakowitsch (FPÖ).

Ganz anders der Tenor unter den Oppositionsparteien: SPÖ und JETZT
sehen in der Strukturreform den Anfang einer „Drei-Klassen-Medizin“
und übten massive Kritik an der Neuaufstellung der
Entscheidungsgremien in den Kassen. Dabei würden die Interessen der
Arbeitgeberseite über Gebühr gestärkt. Von einer echten
Leistungsharmonisierung könne bei der Reform keine Rede sein,
stimmten die NEOS in die Kritik ein. Gerald Loacker (NEOS) verwies
beispielsweise auf Privilegien bei den Krankenfürsorgeanstalten für
öffentlich Bedienstete, die man nicht antasten wolle, zulasten der
ArbeiterInnen und ArbeitnehmerInnen. „Die FPÖ ist im Liegen
umgefallen“, erklärte SPÖ-Klubobfrau Pamela Rendi-Wagner das
Zustandekommen des Reformgesetzes. „Sie hat ihre Wähler und
Wählerinnen auf Geheiß der ÖVP verraten“.

Das sogenannte Sozialversicherungs-Organisationsgesetz führt unter
anderem zu einer Reduktion der Sozialversicherungsträger von 21 auf
5, heißt es im Regierungsvorschlag. Die Gebietskrankenkassen werden
in der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) zusammengefasst, die
Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft mit jener der
Bauern zur Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen (SVS)
verschmolzen und die Versicherungsanstalt für Eisenbahnen und Bergbau
mit der Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter zur neuen BVAEB
fusioniert. Erhalten bleiben die Pensionsversicherungsanstalt (PVA)
und die Allgemeine Unfallversicherungsanstalt (AUVA), wobei Letztere
eine Reihe von Sparauflagen zu erfüllen hat. An die Stelle des
Hauptverbands tritt künftig ein verschlankter Dachverband, die Zahl
der FunktionärInnen sinkt. Gleichzeitig sollen
UnternehmervertreterInnen in der neuen Selbstverwaltung mehr Einfluss
in den Kassen bekommen sowie die Aufsichtsrechte des
Sozialministeriums und des Finanzministeriums ausgeweitet werden.

Während der Debatte brachten Abgeordnete der Regierungsfraktionen und
der Opposition mehrere Anträge zur Gesetzesvorlage ein. Mehrheitlich
Zustimmung erhielten zwei Abänderungsanträge von ÖVP und FPÖ sowie
ein Entschließungsantrag der Koalitionsparteien, mit dem die
Bundesländer weiterhin die Möglichkeit zur Rücklagennutzung der
Gebietskrankenkassen erhalten. Nur eine Minderheit billigte die
NEOS-Vorschläge zur Sozialversicherungsreform, festgehalten in einem
Abänderungs- und einem Entschließungsantrag. Genauso mehrheitlich
abgelehnt wurden ein Entschließungsantrag von JETZT zur
Selbstverwaltung und ein Antrag auf Rückverweisung des
Gesetzesentwurfs in den Sozialausschuss.

Neben der Sozialversicherungsreform beschloss der Nationalrat heute
mehrheitlich eine weitere Novelle zum Allgemeinen
Sozialversicherungsgesetz (ASVG): jene zur Telerehabilitation , wobei
ergänzend auch das Gewerbliche Sozialversicherungsgesetz (GSVG), das
Bauern-Sozialversicherungsgesetz (BSVG) und das Beamten-Kranken- und
Unfallversicherungsgesetz geändert wurden. Mit einem im Rahmen der
Sitzung von den Koalitionsparteien eingebrachten Abänderungsantrag
wird festgelegt, dass Zeitungskolporteure und -zustellerInnen künftig
jedenfalls nach dem GSVG – und nicht nach dem ASVG –
pflichtversichert sind.

Die Debatte über die Reform wurde über weite Strecken sehr emotional
geführt, was die Vorsitzenden, Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka
und Zweite Präsidentin Doris Bures, auch mehrfach zum Einschreiten
veranlasste. Neben Ermahnungen und dem Ersuchen, die Debatte sachlich
zu führen, wurden auch einige Ordnungsrufe, etwa an Josef Muchitsch
(SPÖ) für den Vorwurf der Lüge, ausgesprochen. Sobotka entschied sich
nach wiederholten gleichartigen „tatsächlichen Berichtigungen“
außerdem dazu, diese an das Ende der Debatte zu verlegen, was ihm
Kritik vom geschäftsführenden Klubobmann der SPÖ Jörg Leichtfried
einbrachte. Bures verzichtete später darauf, diese Praxis
weiterzuführen. Die SPÖ opponierte mit mehrfachen tatsächlichen
Berichtigungen, insbesondere gegen die Darstellung, dass die 21
Sozialversicherungsträger zu 5 zusammengeführt werden, und verwies
auf die – in anderer Form – weiterbestehenden Betriebskrankenkassen
und die Versorgungsanstalt des Notariats (Details zur
Sozialversicherungsreform siehe Parlamentskorrespondenz Nr. 1209/2018
).

Opposition bezweifelt veranschlagte Einsparungen…

Im Zeitraum 2020 bis 2023 erwartet die Regierung mit der Reform
kumulierte Einsparungen bei Verwaltungs- und Sachaufwand im Ausmaß
von 1 Mrd. €, stößt bei der Opposition damit aber auf große Zweifel.
„In der Luft zerfetzt“ hätten Rechnungshof und parlamentarischer
Budgetdienst die Berechnungen in der Regierungsvorlage, hielt
JETZT-Klubobmann Bruno Rossmann ÖVP und FPÖ „Zahlentrickserei“ vor.
Daniela Holzinger-Vogtenhuber, Sozial- und Gesundheitssprecherin der
Liste JETZT, stellte aus Sorge um massive Einsparungen bei den
Gesundheitsleistungen in den Bundesländern infolge der Kassenreform
einen Rückverweisungsantrag. Das Gesetz müsse im Sozialausschuss
nochmals eingehend diskutiert werden, zumal die Einsparungssumme von
1 Mrd. € im Gesetzestext nirgends aufscheine. Außerdem forderte sie,
die demokratische Legitimität der Selbstverwaltung der
Sozialversicherung durch die Einführung einer Sozialwahl zu stärken.
Die Versicherten müssten die Kontrolle über die Verwendung ihrer
Beiträge beibehalten.

…warnt vor „Drei-Klassen-Medizin“

SPÖ-Klubobfrau Pamela Rendi-Wagner stellte die angekündigte
„Patientenmilliarde“ ebenfalls in Abrede, wie auch die übrigen
Versprechen der Regierung im Zusammenhang mit der
Sozialversicherungsreform. Statt gleicher Gesundheitsleistungen für
alle Bürgerinnen und Bürger gebe es künftig eine
„Drei-Klassen-Medizin“, in dem die sieben Millionen ÖKG-Versicherten
die „großen Verlierer“ darstellten, so Rendi-Wagner. Die Strukturen
würden dabei nicht schlanker, vielmehr richte die Regierung eine
zusätzliche „fette“ Verwaltungsebene in der Österreichischen
Gesundheitskasse ein, mit ausgeweitetem Einfluss der Wirtschaft. Für
die Patientenversorgung bliebe da keineswegs mehr Geld übrig, betonte
die Klubobfrau, die im Gegenteil die Einführung von Selbstbehalten
und Ambulanzgebühren herandrohen sieht. „Brandgefährlich für das
solidarische Gesundheitssystem“ nannte sie das Handeln der Regierung,
werde damit doch eine „gut funktionierende, ausfinanzierte
Gesundheitsversorgung aufs Spiel gesetzt“. Rossmann nimmt wie
SPÖ-Sozialsprecher Josef Muchitsch außerdem an, „der
Gesundheitsbereich soll für den privaten Markt geöffnet werden“,
immerhin verschiebe sich im neuen Selbstverwaltungssystem der
Sozialversicherungen der Einfluss zugunsten der Arbeitgeberseite. Im
Rahmen einer „rücksichtslosen Machtpolitik“ installiere die Regierung
neue Posten für ihre eigenen FunktionärInnen, so Muchitsch. „Da geht
es Ihnen nicht um die Versicherten“.

Anhand einer Tafel am Rednerpult wies er auf vergleichsweise niedrige
Verwaltungskosten im bisherigen Sozialversicherungssystem hin, das
nicht zuletzt aufgrund seines vielfältig besetzten Funktionärskreises
die beste Versorgung für die gesamte Bevölkerung sichergestellt habe.
Dieses System werde nun zerstört, prophezeite Muchtisch wie schon
Rendi-Wagner eine Drei-Klassen-Medizin, mit weniger Leistungen für
den Großteil der PatientInnen. Die SPÖ werde alles tun, um die
Reform, die eine Reform für Großkonzerne, privat Versicherte und
Reiche sei, beim Verfassungsgerichtshof zu Fall zu bringen. Die
SPÖ-Abgeordneten Rainer Wimmer, Gabriele Heinisch-Hosek, Alois Stöger
und Verena Nussbaum bekräftigten die Reformkritik ihrer Partei. So
ortet Stöger etwa eine „Rückkehr in das 18. Jahrhundert“. Die
Regierung führe das Verhältnis von Herr und Knecht wieder ein. Nicht
mehr die ArbeitnehmerInnen würden künftig darüber entscheiden, welche
Gesundheitsleistungen sie für ihre Beiträge erhalten, sondern die
UnternehmerInnen. Schon die erste schwarz-blaue Regierung habe mit
der Einführung von Selbstbehalten und Ambulanzgebühren viel Schaden
angerichtet, sagte Stöger, diese Politik werde nun fortgesetzt.
„Warum fahren Sie das Gesundheitssystem gegen die Wand?“ wollte auch
Nussbaum wissen und sprach von einer Enteignung der ArbeitnehmerInnen
und dem „größten Diebstahl der Zweiten Republik“. Wimmer ist
überzeugt, Bauern, Selbständige und BeamtInnen werden weiterhin
bessere Leistungen erhalten, während die Österreichische
Gesundheitskasse zur „Kasse der Armen“ mutiere.

Stöger und Muchitsch wandten sich darüber hinaus gegen das ständige
„Schlechtmachen“ von FunktionärInnen durch die Regierungsparteien. Es
seien die FunktionärInnen, die dafür sorgen, dass ein System
funktioniert, machte Stöger geltend. Auch die Behauptung, die
Sozialversicherungen würden Reformen verweigern, wiesen er und seine
FraktionskollegInnen zurück. Die Betriebskrankenkassen hätten längst
damit begonnen, ihre Leistungen zu harmonisieren und andere
Reformschritte zu setzen, sagte Heinisch-Hosek, die in der
Regierungspolitik eine Gefährdung des sozialen Friedens und der
Demokratie ausmacht.

…und prangert parteipolitisches Kalkül an

„Die Zusammenlegung der Sozialversicherungsträger entpuppt sich als
Schmäh“, zeigte sich Beate Meinl-Reisinger, Klubobfrau der NEOS,
entrüstet. Tatsächlich seien nur die Gebietskrankenkassen betroffen,
die übrigen Krankenkassen blieben „unangetastet“. Die sogenannte
Patientenmilliarde gebe es ebenso wenig wie verbesserte Leistungen
oder mehr Kassenärzte, stattdessen würden lediglich die Funktionäre
und Funktionärinnen „umgefärbt“. Das Gesetz sei wahrscheinlich
verfassungswidrig, bestätigte sie Muchitsch mit Blick auf die
Neuausrichtung der Selbstverwaltung der Sozialversicherungen.
NEOS-Sozialsprecher Gerald Loacker findet ebenfalls, bei der Reform
gehe es vorrangig um politisches Kalkül, das zum Austausch roter
FunktionärInnen mit türkisen und schwarzen EntscheidungsträgerInnen
führe. Die Zusammenlegungen der Sozialversicherungen führten nicht
wie versprochen zu Leistungsharmonisierungen und Einsparungen, da die
Strukturen innerhalb der neuen Träger unverändert blieben bzw.
sozialdemokratisch geprägte Versicherungen wie jene der Eisenbahner
an solche mit ÖVP-Mehrheit, konkret die Beamtenversicherung,
gekoppelt würden.

Nötig ist aus Loackers Sicht vor allem ein Risikostrukturausgleich
zwischen den Trägern, sodass die Gesundheitskosten unter den
Versicherungen gleichmäßig aufgeteilt werden. Mit einem
Entschließungs- und einem Abänderungsantrag versuchte er, die ihm
zufolge erforderlichen Sozialrechtsänderungen anzustoßen. Unter
anderem sollten zwecks bedarfsgerechter Finanzierung der
Gebietskrankenkassen die Arbeitsunfall-Versicherung umfassend
reformiert und die „Hebesätze“ der Pensionsversicherung, über die aus
Beiträgen der Erwerbstätigen die PVA finanziert wird, gesenkt werden.

ÖVP und FPÖ: Reform bringt mehr Geld für Patientenversorgung…

„Die größte Reform der Sozialversicherungen“ werde heute beschlossen,
traten die RednerInnen von ÖVP und FPÖ den Aussagen der Opposition
entschieden entgegen. FPÖ-Abgeordnete Dagmar Belakowitsch verurteilte
besonders die Haltung der SPÖ, unter deren Führung des Sozialressorts
trotz jahrzehntelanger Diskussionen über eine
Sozialversicherungsreform eine solche nicht zustande gekommen sei.
„Verlierer sind die roten Funktionäre, die gestern auf der Straße
gestanden sind und Ambulatorien zugesperrt haben“, richtete sie den
SozialdemokratInnen aus, keineswegs die erwähnten sieben Millionen
ÖKG-Versicherten. In deren Interesse reduziere man nun die
SV-Funktionärszahl und modernisiere die Versicherungsstruktur, sodass
sie den Ansprüchen des 21. Jahrhunderts gerecht werde. ÖVP-Klubobmann
August Wöginger zog nach: ArbeiterInnen und ArbeitnehmerInnen würden
mit der Reform bundesweit für gleiche Beiträge die gleichen
Leistungen erhalten, anstatt ihre Beitragszahlungen in der Verwaltung
verschwinden zu sehen. „Wir halten, was wir versprochen haben“.

Die Strukturen der Sozialversicherungsträger würden dank der
Zusammenführung verschlankt, ohne die Bediensteten deswegen zu
entlassen oder Spitäler zu schließen. Die früheren Regierungen seien
bei derartigen Vorhaben immer an den SPÖ-Funktionärsstrukturen
gescheitert, die jetzige handle hingegen im Sinne der Patientinnen
und Patienten. Wöginger ist im Übrigen überzeugt, dass die
Kassenreform verfassungskonform ist. Ausdrücklich wiesen Wöginger und
FPÖ-Klubobmann Johann Gudenus außerdem darauf hin, dass die Auflösung
der Betriebskrankenkassen eine Muss-Bestimmung im Gesetz sei. Daher
sei die Darstellung, dass sich die Zahl der Sozialversicherungsträger
von 21 auf 5 reduziere, richtig.

…verschlankt die Verwaltung

Die tatsächliche Zahl der Versicherungen sei für die Versicherten
völlig uninteressant, meinte FPÖ-Mandatarin Brigitte Povysil,
Vorsitzende im Gesundheitsausschuss. Wichtig sei den PatientInnen,
ausreichend Kassenärzte vorzufinden sowie medizinische Leistungen
einfacher und auf gleich hohem Niveau zu erhalten. Aus diesem Grund
reformiere die Regierung nun das veraltete, komplizierte und
ungerechte Sozialversicherungssystem, wobei verschlankten Träger und
die reduzierte Funktionärszahl die nötigen Einsparungen zur besten
Patientenversorgung sicherstellen würden, umschrieb Povysil den
Hauptnutzen der Reform mit dem Wort „Effizienz“. Gestärkt werde dabei
der niedergelassene Bereich, die Länder erhielten aus einem
Investitionsfonds Gesundheit jährlich 200 Mio. €. Eine
unterschiedliche Behandlungen von PatientInnen abhängig von ihrer
Versicherung sei mit dem Reformgesetz ausgeschlossen. Michael Hammer
(ÖVP) war völlig einer Meinung, das neue System führe zu einer
Leistungsharmonisierung, wovon die Versicherten profitieren würden.
Hammer brachte überdies einen Entschließungsantrag der
Regierungsfraktionen ein, wonach den Bundesländern die
Leistungssicherungsrücklagen der ÖGK jedenfalls weiterhin zustehen.
Der Antrag wurde mehrheitlich angenommen.

Hinter die Reform stellten sich auch Rebecca Kirchbaumer (ÖVP),
Werner Neubauer (FPÖ), Georg Strasser (ÖVP), Angelika Kuss-Bergner
(ÖVP) und Klaus Fürlinger (ÖVP). Mit dem vorliegenden Paket werde
umgesetzt, was seit Jahrzehnten gefordert wird, sagte Kirchbaumer.
Durch die Zusammenlegung der Sozialversicherungen könne die Zahl der
20.000 Beschäftigten in den nächsten zehn Jahren um rund 30%
reduziert werden. Anders als di

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