TIROLER TAGESZEITUNG “Leitartikel” Ausgabe vom 8. Juli 2022, von Christian Jentsch: “Vom Ass im Ärmel zum Spielverderber”

Innsbruck (OTS) – Der britische Premierminister Boris Johnson ist am Ende. Einst als Held des Brexit und Retter der konservativen Tories gefeiert, mutierte er zur untragbaren Belastung für Land und Partei.

Mitte Dezember 2019 wurde Boris Johnson noch frenetisch gefeiert. Seine konservativen Tories, die ihn erst vor fünf Monaten zum neuen Parteichef gekürt hatten, und darüber hinaus die große Schar der Brexiteers sahen ihren neuen Heilsbringer gekommen. Der Mann mit dem blonden Haarschopf und der ungestümen, undiplomatischen Art verschaffte den Konservativen bei den vorgezogenen Neuwahlen die absolute Mehrheit. Und er versprach, seine Parole „Get Brexit Done“ rasch umzusetzen. In den Monaten zuvor räumte er seine Vorgängerin an der Spitze der Tories, Theresa May, aus dem Weg. Sie hatte sich im Irrgarten des Brexit verlaufen. Im Kampf um den Brexit sagte Johnson der EU den Kampf an und wurde dafür als Retter eines freien Großbritannien, als Robin Hood hochgejubelt. Wobei weniger Johnson selbst als vielmehr sein Chefberater und Brexit-Mastermind Dominic Cummings den Weg vorgab. Jener Cummings, der später zu seinem erbittertsten Feind werden sollte. Johnson war nie ein großer Ideologe. Aber er war dort, wo es nach Erfolg und Macht roch. Und:
Mit seiner hemdsärmeligen, unkonventionellen Art wusste der Eton-Schüler und Oxford-Student auch den so genannten „kleinen Mann“ zu überzeugen. Johnson wusste den Clown zu spielen, wenn es nur Stimmen brachte.
Am 31. Jänner 2021 führte Johnson Großbritannien schließlich aus der EU. „Ein großartiger Moment für das Land“, erklärte er damals. Doch die große Aufbruchsstimmung wollte sich nie einstellen, das Projekt „Global Britain“ – losgelöst von den Ketten der EU – blieb eine leere Sprechblase. Vielmehr öffneten sich große Gräben und die Einheit des Vereinigten Königreichs bröckelt.
Als Krisenmanager stieß der exzentrische Premier ohnehin rasch an seine Grenzen. In der Corona-Pandemie machte Johnson keine gute Figur. Vielmehr machten alkoholgeschwängerte Partys in seinem Amtssitz in der Downing Street während des Lockdowns Schlagzeilen. Johnson bestritt alles, bis er scheibchenweise alles zugeben musste. Der einstige Held fand sich zuletzt in der Rolle des Buhmanns wieder. Seine Parteifreunde wandten sich in Scharen von ihm ab. Das Fass zu Überlaufen brachte schließlich eine Grapsch-Affäre eines Parteikollegen, über dessen Verhalten Johnson offenbar schon länger Bescheid wusste. Das Ass im Ärmel der Tories wurde zum Spielverderber, zur Peinlichkeit. Lange Zeit wurden seine Fehltritte einfach übergangen, jetzt sind sie nicht mehr tragbar. Als Brexit-Kämpfer war Johnson der Held, heute ist er der Narr. Im neuen Spiel um die Macht hat Boris Johnson keinen Platz mehr.

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