Neue Forschungen über NS-Zwangsarbeiter:innen in Graz

Eine neu erstellte Datenbank macht nun erstmals detaillierte Kenntnisse über das Netzwerk der NS-Zwangsarbeit in Graz möglich.

Während des Zweiten Weltkrieges kamen rund 580.000 zivile Zwangsarbeiter:innen aus beinahe allen Gebieten Europas auf das Gebiet des heutigen Österreichs, so auch nach Graz. Sie bildeten ein entscheidendes Rückgrat der NS-Kriegswirtschaft. Über den Einsatz dieser „Fremdarbeiter:innen“ führten die NS-Meldebehörden penibel Buch, registrierten die wesentlichen Daten zur Person und zu ihrem Aufenthalt im „Dritten Reich“. 

Die Meldekarteien zur NS-Zwangsarbeit in Graz – aufbewahrt im Grazer Stadtarchiv – konnten nun im Rahmen eines Forschungsprojektes des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung (BIK) und der Universität Graz erstmals in Form einer Datenbank erschlossen und ausgewertet werden. Die 15.304 Einträge zu den Zwangsarbeiter:innen in Graz zeigen, dass die meisten aus Italien und Russland stammten, gefolgt von Frankreich, Kroatien und der Ukraine. Rund ein Drittel war zum Zeitpunkt ihrer Verschleppung jünger als 20 Jahre. Sie arbeiteten in der Grazer Rüstungsindustrie wie Steyr-Daimler-Puch, in der Landwirtschaft oder in privaten Haushalten. Ihre Unterbringung erfolgte in einem Netz von Lagern und lagerähnlichen Einrichtungen, das die gesamte Stadt überzog und nun im Detail dargestellt werden kann. 

_„Tausende Zwangsarbeiter:innen sind während der NS-Zeit nach Graz verschleppt worden. Es ist wichtig, dass dieses dunkle Kapitel der Stadtgeschichte beleuchtet wird. Das sind wir nicht nur den Opfern schuldig, denn sie dürfen nicht vergessen werden, es ist auch unsere Verpflichtung aufzuklären und zu erinnern, um zu verhindern, dass sich die Geschichte wiederholt“_, so Kulturstadtrat Günter Riegler.

Univ.-Prof. Dr. Barbara Stelzl-Marx, Leiterin von BIK und Professorin für europäische Zeitgeschichte der Universität Graz betont zentrale Bedeutung der Datenbank: _„Die Omnipräsenz und gleichzeitige Unsichtbarkeit der zivilen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern zeigt uns, wie wichtig es ist, Licht in dieses dunkle Kapitel der Geschichte zu bringen. Die Datenbank ist wie ein Kaleidoskop der NS-Zwangsarbeit in Graz. Mit ihr ist es uns nun gelungen, das Netzwerk der NS-Lager in Graz erstmals im Detail zu rekonstruieren und den ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern mit der Erfassung von über 15.000 Karteikarten ein Gesicht sowie einen Namen zu geben. Ich danke allen Beteiligten für ihr Mitwirken und freue mich, der Stadt Graz als Fördergeberin die Datenbank heute übergeben zu dürfen.“_ 

FORSCHUNGSERGEBNISSE IM ÜBERBLICK

Die große Zahl an erfassten Personen ermöglicht es, erstmals ein genaues Bild über die Ausmaße von Zwangsarbeit in Graz zu geben. So werden Herkunft, Unterbringung, Bewegungen zwischen den Lagern und Verwendung der einzelnen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern sichtbar. _„Die Erschließung eines solch umfangreichen Bestands zu Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern in einer großen Stadt ist im deutschsprachigen Raum bisher einzigartig und die Tatsache, dass sich dieser Bestand bis heute erhalten hat, ein großer Glücksfall für die historische Forschung“,_ erklärt Projektkoordinator Mag. Martin Sauerbrey-Almasy.

Menschen aus über 40 Nationen, die an über 700 Adressen untergebracht waren, wurden in rund 190 verschiedenen Berufen eingesetzt – rund 40 Prozent aller Zwangsarbeiter:innen waren dabei Hilfsarbeiter:innen. Die Größe der Lager variierte stark – so hielten sich von 1941 bis 1945 fast zwei Drittel aller Zwangsarbeitenden zumindest einmal im Lager Liebenau – dem größten Lager in Graz – auf. Andere Unterkünfte beherbergten nur einzelne Personen für unterschiedlich lange Zeiträume. Allenfalls wird offensichtlich, wie sehr Zwangsarbeit zum Grazer Alltag gehörte. 

_„Während der Arbeit mit diesen Meldekarteien und den daraus generierten Daten darf man nicht vergessen, dass hinter jeder dieser Karteien persönliche Schicksale und Leidensgeschichten stehen“_, betont Sauerbrey-Almasy. Aus der Datenbank geht hervor, dass mindestens 150 Kinder von Zwangsarbeiterinnen in Graz geboren wurden und ihre ersten Lebensjahre im Lager verbrachten. Manche wissen bis heute nicht, wer ihre Eltern waren. Auch 78 Todesfälle wurden in den Meldekarteien registriert. Insgesamt können nun genauere Rückschlüsse über das Leben in den Lagern gezogen werden. So waren beispielsweise die Baracken – je nach Nationalität – unterschiedlich belegt. Des Weiteren bekommt man Aufschluss über die tatsächlichen Belegzahlen, die Verweildauer und das Alter der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Der Großteil der Zwangsarbeiter:innen war zwischen 15 und 40 Jahren alt.

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