Presserat: Suizidberichte zu Kellermayr und Jenewein verstoßen gegen Medienethik

Zu Berichten über den Suizid der Ärztin Dr. Lisa-Maria Kellermayr und den Suizidversuch des ehemaligen Politikers Hans-Jörg Jenewein erreichten den Presserat mehrere Beschwerden. Der Senat 3 hat diese Beschwerden nun umfassend aufgearbeitet und die Ergebnisse dazu bekannt gegeben. Er stellte zwei Ethikverstöße fest und hält es für angemessen, in dieser Angelegenheit zusätzlich eine allgemeine Stellungnahme abzugeben:

– GRUNDSÄTZLICHES ZUR SUIZIDBERICHTERSTATTUNG:

Der Senat stellte in seinen Entscheidungen einige allgemeine Grundsätze zur Suizidberichterstattung auf: Er hielt zunächst fest, dass die Berichterstattung über Suizide und Suizidversuche im Allgemeinen große Zurückhaltung gebietet, insbesondere auch wegen der Gefahr der Nachahmung durch andere suizidgefährdete Personen. Verantwortungsvoller Journalismus wägt ab, ob ein überwiegendes öffentliches Interesse besteht und verzichtet gegebenenfalls auf überschießende Berichterstattung (Punkt 12 des Ehrenkodex für die österreichische Presse).

In der bloßen Bekanntgabe des Suizids oder Suizidversuchs kann zwar ein öffentliches Interesse bestehen, so u.a. wenn der Vorfall auch eine politische Dimension aufweist. Unabhängig davon kann jedoch die Veröffentlichung bestimmter Details zum Suizid(-versuch) überschießend und somit medienethisch unzulässig sein. Nach der Entscheidungspraxis des Presserats gilt dies insbesondere für die Nennung der Suizidmethode: Die genaue Schilderung kann dazu führen, dass andere gefährdete Personen dies zum Anlass nehmen, auf eine ähnliche Art und Weise Suizid zu begehen.

Außerdem sollte auch auf unpassende oder reißerische Formulierungen verzichtet werden. Ferner ist bei der Suizidberichterstattung auch Rücksicht auf die Trauerarbeit und das Pietätsgefühl der Angehörigen zu nehmen.

Nach Meinung des Senats wurden mehrere Medien ihrer ethischen Verantwortung bei der Berichterstattung über die Fälle Kellermayr und Jenewein nicht gerecht: Zum einen wurden mehrere Details zum Suizidgeschehen gebracht. Zum anderen wurden auch Gerüchte veröffentlicht, die sich im Nachhinein als falsch herausstellten. Der Senat fordert die gesamte österreichische Medienlandschaft dazu auf, in Zukunft bei Suizidberichten mit mehr Achtsamkeit vorzugehen und auch bei Personen des öffentlichen Lebens auf überschießende Details zu verzichten. Im Folgenden gibt der Senat seine Entscheidungen zu konkreten Beiträgen bekannt, die mehrere Leserinnen und Lesern beanstandeten:

– ZUM BEITRAG „ABSCHIEDSBRIEFE: LETZTE ABRECHNUNG DER IMPF-ÄRZTIN“, ERSCHIENEN AM 31.07.2022 AUF „KRONE.AT“:

Im Beitrag wird über den Suizid der Ärztin Dr. Lisa-Maria Kellermayr berichtet; die oberösterreichische „Impf-Ärztin“ hinterlasse drei Abschiedsbriefe – es sei viel geredet worden, aber keiner habe etwas getan. Anschließend werden mehrere sehr persönliche Passagen aus den Abschiedsbriefen des Suizidopfers zitiert. Die mit Morddrohungen von Corona-Leugnern konfrontierte Medizinerin prangere weiters an, _„dass sehr viel geredet wurde, aber keiner etwas getan hat“_. So wie der Anfang sei auch das Ende der Abrechnung dramatisch – es folgt ein direktes Zitat der Verstorbenen, in dem sie die oberösterreichische Polizei angreift. Weiters werden auch noch private Worte der Ärztin an ihre Mitarbeiterin sinngemäß wiedergegeben.

Im letzten Teil des Artikels heißt es, dass die Landärztin aus Seewalchen am Attersee mit ihren „inneren Dämonen“ freilich schon länger gekämpft hätte; in dem Zusammenhang wird die Methode eines zuvor unternommenen Suizidversuchs geschildert.

_AUS DER BEGRÜNDUNG DES SENATS:_

Als Ärztin, die während der Pandemie regelmäßig am öffentlichen Diskurs teilgenommen hat, wurde Kellermayr von Gegnerinnen und Gegnern der Corona-Schutzmaßnahmen massiv bedroht. In dem Zusammenhang wurden die Behörden in der Öffentlichkeit mehrmals kritisiert, u.a. weil ihr kein Polizeischutz gewährt worden sei. Bei der bloßen Meldung des Suizids überwiegt daher der Informationswert für die Allgemeinheit gegenüber den Persönlichkeitsinteressen des Suizidopfers, zumal bei Berichten über ein mögliches Behördenversagen die Presse- und Meinungsfreiheit von Vornherein weit auszulegen ist (vgl. Punkt 10.1 des Ehrenkodex).

Unabhängig davon bewertet der Senat jedoch die Veröffentlichung von Zitaten aus ihren Abschiedsbriefen als überschießend. Dies betrifft v.a. die sehr persönlichen Passagen Kellermayrs zu ihrer Situation und die sinngemäß wiedergegebenen Abschiedsworte an ihre Mitarbeiterin – die Veröffentlichung dieser Zitate hätte im Sinne der Suizidprävention jedenfalls unterbleiben müssen. Im Gegensatz dazu sieht der Senat die Veröffentlichung jener Zitate, in denen Kellermayr die Behörden für ihre verzweifelte Situation verantwortlich macht, noch vom Informationsinteresse der Allgemeinheit gedeckt.

Im Sinne der bisherigen Entscheidungspraxis ist auch die Schilderung des von Kellermayr zuvor unternommenen Suizidversuchs medienethisch unzulässig. Zudem wertet der Senat die Anmerkung des Autors, dass Kellermayr schon länger mit ihren „inneren Dämonen“ gekämpft habe, als unpassend, reißerisch und wiederum als überschießend. Derartige Formulierungen bringen eine Stigmatisierung von Suizidopfern mit sich.

Der Senat hebt es zwar als positiv hervor, dass unterhalb des Artikels Hilfsorganisationen für suizidgefährdete Personen angeführt wurden bzw. zu Notrufnummern für den Fall einer akuten Krise verlinkt wurde; dies reicht nach Meinung des Senats jedoch nicht aus, den Verstoß gegen den Ehrenkodex nicht zu ahnden. Der Senat stellt somit einen VERSTOSS GEGEN DEN PUNKT 12 DES EHRENKODEX FÜR DIE ÖSTERREICHISCHE PRESSE fest.

– ZUM BEITRAG „POLIT-TRAGÖDIE UM KICKLS VETRAUTEN JENEWEIN“, ERSCHIENEN AM 07.08.2022 AUF „KRONE.AT“:

In der ursprünglichen Version des Beitrags wurde festgehalten, dass der frühere Vertraute von Klubobmann Herbert Kickl, Hans-Jörg Jenewein, wenige Tage nach seinem Parteiaustritt regungslos in seinem Haus nahe Wien gefunden worden sei – „eine mutmaßliche Verzweiflungstat!“ Weiters hieß es, dass er auf der Intensivstation der Klinik Ottakring im Koma liege und um sein Leben kämpfe, angeblich würde es laut Parteikreisen einen Abschiedsbrief geben. Offenbar sei dem in Ungnade gefallenen blauen Politiker die Distanz seiner Partei ihm gegenüber zu viel geworden und er habe seinem Leben ein Ende setzen wollen: Im Artikel wurde auch noch die Methode des Suizidversuchs genannt und angemerkt, dass es wie bei der „Impfärztin“ auch eine letzte Anklage geben solle, und zwar gegen seinen früheren Freund und Vertrauten Herbert Kickl, von dem er „tief enttäuscht“ sei.

_AUS DER BEGRÜNDUNG DES SENATS:_

In der ursprünglichen Version wurde eher ein Gerücht als eine gesicherte und gut recherchierte Information gebracht, nämlich dass es „laut Parteikreisen angeblich“ einen Abschiedsbrief von Hans-Jörg Jenewein gebe. Da das Gerücht eines Abschiedsbriefes in erster Linie die Privatsphäre Jeneweins und kein politisches Thema betrifft, erkennt der Senat an der Wiedergabe des Gerüchts kein öffentliches Interesse (siehe Punkt 10 des Ehrenkodex), zumal der bloße Hinweis auf „Parteikreise“ im vorliegenden Fall nicht als zuverlässige Quelle einzustufen ist.

Auf welche Quelle die Behauptung zurückzuführen ist, dass der Ex-Nationalratsabgeordnete in einem Spital im Koma liege, geht aus dem Artikel nicht hervor. Die Information war jedenfalls eine Falschmeldung, sodass es naheliegend ist, dass auch hier nicht ausreichend nachrecherchiert wurde. Dies belegt zudem eine Stellungnahme der Schwester des Betroffenen, die in einer OTS-Aussendung dezidiert klargestellt hat, dass ihr Bruder nicht im Koma gelegen sei und keinen Abschiedsbrief verfasst habe.

Aufgrund der schwerwiegenden Umstände des Falles bewertet es der Senat als nicht ausreichend, dass der Artikel vom Medium im Nachhinein geändert wurde und die offensichtlich falschen Informationen entfernt wurden. Der Senat erkennt in der URSPRÜNGLICHEN VERSION des Beitrags somit einen VERSTOSS GEGEN PUNKT 2.1 DES EHRENKODEX FÜR DIE ÖSTERREICHISCHE PRESSE (GEWISSENHAFTIGKEIT UND KORREKTHEIT IN RECHERCHE UND WIEDERGABE VON NACHRICHTEN UND KOMMENTAREN).

Weiters erkennt der Senat in der ursprünglich veröffentlichten Behauptung, dass Jenewein im Koma liege und es einen Abschiedsbrief bzw. eine „letzte Anklage“ gegen Kickl gebe, einen Eingriff in die Privatsphäre Jeneweins. Zwar berücksichtigt der Senat, dass der Suizidversuch grundsätzlich im Zusammenhang mit einem Thema von öffentlichem Interesse steht, nämlich mit der Niederlegung eines politischen Amtes bzw. den Hintergründen hierfür. Außerdem genießt Jenewein als ehemaliger und bekannter FPÖ-Politiker grundsätzlich weniger Persönlichkeitsschutz als eine Privatperson.

Dennoch ist der Gesundheitszustand eines Menschen, der Inhalt eines Abschiedsbriefs und die gewählte Methode bei einem Suizidversuch dem Bereich der Privatsphäre zuzurechnen, zumal die Information, wonach Jenewein im Koma liege und Ärzte um sein Leben kämpfen würden, unrichtig war. Da der Eingriff in die Persönlichkeitssphäre Jeneweins durch die URSPRÜNGLICHE FASSUNG des Beitrags als gravierend einzustufen ist, erkennt der Senat auch einen VERSTOSS GEGEN DIE PUNKTE 5 (PERSÖNLICHKEITSSCHUTZ) UND 6 (INTIMSPHÄRE).

Schließlich bewertet der Senat die Schilderung der Methode, die auch in der aktualisierten Version des Artikels beibehalten wurde, als überschießend; zudem ist die Bezeichnung des Suizidversuchs Jeneweins als „Verzweiflungstat“ als plakativ bzw. unpassend einzustufen. Im Ergebnis erkennt der Senat auch auf einen VERSTOSS GEGEN PUNKT 12 (SUIZIDBERICHTERSTATTUNG) des Ehrenkodex für die österreichische Presse.

Überdies merkt der Senat kritisch an, dass die Methode des Suizidversuchs im Beitrag nach wie vor genannt wird; er empfiehlt eine Anpassung im Sinne der vorliegenden Entscheidung. In dem Zusammenhang ist auch nochmals auf Punkt 2.4 des Ehrenkodex zu verweisen, wonach eine freiwillige Richtigstellung bzw. Abänderung eines Artikels dem journalistischen Selbstverständnis und Anstand entspricht.

– WEITERE BEITRÄGE:

Darüber hinaus untersuchte der Senat noch weitere Beiträge, u.a. einen Newsletter-Beitrag des Mediums „FALTER“, in dem die Suizidmethode Kellermayrs angeführt wurde. Allerdings wurde hier nur wenige Minuten nach der Aussendung des Newsletters umgehend reagiert und die betreffende Passage aus dem dazugehörigen Onlinebeitrag entfernt. Aufgrund einer deutlichen Entschuldigung – die auch auf dem Social-Media-Kanal des Autors veröffentlicht wurde – hielt es der Senat nicht für erforderlich, hier einen Verstoß gegen den Ehrenkodex auszusprechen. Die Details dazu finden Sie auf der Homepage des Presserats unter www.presserat.at.  

SELBSTÄNDIGE VERFAHREN AUFGRUND VON MITTEILUNGEN MEHRERER LESERINNEN UND LESER

_Der Presserat ist ein Verein, der sich für verantwortungsvollen Journalismus einsetzt und dem die wichtigsten Journalisten- und Verlegerverbände Österreichs angehören. Die Mitglieder der Senate des Presserats sind weisungsfrei und unabhängig._

_In den vorliegenden Fällen führte der Senat 3 des Presserats aufgrund von Mitteilungen mehrerer Leserinnen und Leser Verfahren durch (selbständige Verfahren aufgrund von Mitteilungen). In diesen Verfahren äußert der Senat seine Meinung, ob eine Veröffentlichung den Grundsätzen der Medienethik entspricht. Die Medieninhaberin von „falter.at“ hat von der Möglichkeit, an dem Verfahren teilzunehmen, Gebrauch gemacht, die Medieninhaberin von „krone.at“ hingegen nicht._

_Die Medieninhaberin der Wochenzeitung „Falter“ hat die Schiedsgerichtsbarkeit des Presserats anerkannt, die Medieninhaberin der „Kronen Zeitung“ hingegen nicht._

Alexander Warzilek, Geschäftsführer, Tel.: 01-2369984-01

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